Logo Geheim 3/1999

Marx lesen

Marxistische Lesehefte, hrsg. von Uwe-Jens Heuer, Harry Nick, Kurt Pätzold, Arnold Schölzel, GNN-Verlag Sachsen/Berlin 1998ff

Wer Gesellschaft verstehen will, kann es sich schwer machen und nach Gründen suchen, Marx zu lesen. Warum Marx, könnte er fragen, und warum nicht Habermas' Kommunikatives Handeln oder Rawls' Gesellschaftsvertrag oder Becks Risikogesellschaft oder Schulzes Erlebnisgesellschaft, oder besser gleich Aristoteles' Politik, womit alles angefangen hat, oder noch besser Luhmanns Systemtheorie, mit der alles endet: Nach Aristoteles' philosophisch gerichteter Politik, Marx' zielgerichteter Praxis ohne Philosophie, Weber/Durkheim/Paretos Akteure ohne Ziel - nun das Ende in Luhmanns System ohne Akteure .

Warum also ausgerechnet Marx, der außerdem bekanntlich von sich selbst gesagt hat, er sei kein Marxist, warum Marxismus, von dem sehr gelehrte Gelehrte sagen, er existiere nur als pluraler (Sandkühler), von dem andere sehr gelehrte Gelehrte sagen, ohne Marxismus gebe es keinen Pluralismus (Klaus von Beyme), von dem wieder andere sehr gelehrte Gelehrte sagen, er sei ein unabgeschlossenes Projekt aus dem 19. Jahrhundert (W.F. Haug).

Fragen wir, was ausgemacht ist, dann kann soviel als gesichert gelten: Das Weib, kaum zu Problembewusstsein gekommen, dachte - an ein Kleid. Das wissen wir aus der Bibel und von Heine. Dass diese Denkweise mit Mode zu tun hat, was wiederum vom Modus kommt, der die Attribute umhüllt, ist, wenn auch bestreitbar, so unphilosophisch ja nun nicht. - Der Mann, kaum zu Problembewusstsein gekommen, dachte - an Politik: Solon fand einen Weg, die Armen zur Duldung der Reichen und ihrer Bereicherung zu bringen, und gilt deshalb bis heute weithin als Weiser.

Wir sehen - da Menschen in Gesellschaft leben, da Gesellschaft Probleme schafft, da Probleme Nachdenken auslösen, gehört das Nachdenken über gesellschaftliche Probleme zum Menschen und seinem Dasein: Von den zwei Formen, die wir bisher kennen gelernt haben, interessiert uns hier vorrangig das Nachdenken über den Zustand der Gesellschaft und ihre Gestaltung, das Nachdenken über Politik - Politik.

Die Geschichte des politischen Denkens ist also die Geschichte des Nachdenkens über die Probleme des Gesellschaft und des Sinnens auf Abhilfe. Dass das politische Denken keine eigene Geschichte hat, sondern Teil der Praxis ist, der Probleme und ihrer Lösung, zeigt sich beiläufig.

Der Meister-Denker aber, der sein Nachdenken genau unter dieses Kriterium der Praxis stellte und gleichzeitig ganz hart an unseren zeitgenössischen Problemen dranblieb, das war Marx. - An unseren zeitgenössischen Problemen? 19. Jahrhundert? Genau. Unsere Zeitgenossenschaft reicht mindestens zurück bis ins England des 17. Jahrhunderts. Das meint vermutlich Dieter Grimm, wenn er sagt, dass uns von der bürgerlichen Epoche nur ein modifiziertes Ordnungsverständnis trenne, aber kein radikaler Prinzipienwechsel. Und der ist kein »Marxist« - aber ein kluger Mann. Und hinter der FAZ, die im vergangenen Jahr so zustimmend wie selbstbewusst die Passage über die Herstellung des Weltmarktes durch das große Kapital aus dem ersten Programm der ersten Kommunistischen Partei druckte, aus dem berühmten Manifest, dessen Verfasser Karl Marx war, stecken auch keine »Marxisten«, aber bekanntlich kluge Köpfe. Und auch im DGB haben einige Kollegen ebenso wie die Wissenschaft (Grimm) und das Kapital (FAZ) noch eine leise Ahnung, dass da etwas sein muss, und stellten Marx-Texte ins Zentrum des Bildungsjahres 1998/1999 über die »Globalisierung«.

17. Jahrhundert. Nicht von ungefähr spricht man eben von Thomas Hobbes, einem britischen Meister-Denker des bürgerlichen 17. Jahrhunderts, als dem Begründer der neuzeitlichen politischen Philosophie. Und weil es in unseren Tagen von Neuem zugeht wie zu Hobbes Zeiten (vgl. dazu Habermas unter Texte zur Strategie 28), wird der Autor des »Leviathan« wieder als modern gehandelt. Zwischenzeitlich aber war er schon einmal partiell veraltet, weil seine Problemstellung nicht mehr aktuell war. Sein »Naturzustand« des Hauens und des Stechens unter den Leuten, dem nach seiner Politikempfehlung der Staat ein Ende machen sollte, hatte sich als Normalzustand der Kommerz-Gesellschaft erwiesen: »Bürger aller Länder, übernehmt euch feindlich, aber nach Recht und Gesetz.« - Babeuf hatte 150 Jahre nach Hobbes und fast zweieinhalbtausend Jahre nach Solon die Konsequenz aus der Misere gezogen und alle Lösung als eitel verworfen. Alle Erklärungen für den Krieg der Reichen gegen die Armen hatten sich als falsch erwiesen und alle Abhilfen waren folglich nicht von Bestand. Kommunismus war das Ende vom Liede . Ungefähr hier begann Karl Marx aus Trier nachzudenken.

Was er dachte und schrieb, erwies sich als ebenso wirkungsmächtig wie zutreffend. Hermann Weber, doch ein recht heftiger Kritiker der Kommunisten, stellte nüchtern fest, dass »die DDR«, eine Gesellschaft, die sich ihre Gestalt unter Berufung auf die Marxsche Problemanalyse und Politikempfehlung gegeben hatte, »von Problemen privat-kapitalistischer Ordnung nur noch wenig tangiert« werde. Das aber war die Marxsche Lösungsrichtung.

Aber die Ordnung, die »von Problemen privat-kapitalistischer Ordnung nur noch wenig tangiert« wurde, war nicht von Bestand. Ein doppelter Grund, darüber nachzudenken. An Problemen privatkapitalistischer Ordnung, die bei Strafe des Untergangs gelöst werden wollen, ist die Welt voll. Eine Lösung war gefunden. Sie war nicht von Bestand. Gesucht ist die Lösung von Bestand.

Im sächsischen Schkeuditz erscheint nun die Reihe »Marxistische Lesehefte«. - Keine Sorge! »Marxistisch« scheint in diesem Projekt im Unterschied zu anderwärtigem »sokratisch« oder »lutherisch« weniger ausschließend oder konfrontativ gebraucht, noch weniger rechthaberisch ex cathedra wie beispielsweise die eklektizistische Reihe von Fischer und Marek unter der Titelschablone mit dem austauschbaren Namen: »Was (Marx-Engels-Lenin-Trotzki-Stalin) wirklich sagte .«. Hier wird kein Beitrag zum Zeitvertreib im Narrenstudium (Sebastian Brant) geleistet, vielmehr hinweisend, umschreibend, vielleicht in Analogie zu Begriffen wie »Aufklärung« oder »Renaissancehumanismus« ein Horizont geöffnet. Denn so, wie etwa »Lesehefte der Renaissance« oder »Lesehefte der Aufklärung« in einer Beschränkung der Textauswahl auf Erasmus-Morus-Machiavelli oder Hobbes-Voltaire-Kant äußerst unvollständig wären (und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Beschreibung der Gedanken-Landschaft als Gegend mit Gipfeln und Tälern, sondern auch als Land und See, als Hafenstädte und Provinz etc.), so beschränken sich die Herausgeber der Reihe und die Bearbeiter der Einzelhefte nicht etwa auf eine Auswahl aus den kanonisierten Texten von Marx-Engels-Lenin, sondern versammeln Texte bei Marx beginnend bis zu Texten von Zeitgenossen unserer Tage, Voraussetzung, die Autoren leben nicht mehr, wie z.B. Wolfgang Abendroth und Reinhard Opitz. Es gibt keine Ausnahme. Den für unverzichtbar gehaltenen quicklebendigen Johannes Agnoli schmuggelt der listige Ekkehard Lieberam über eine Fußnote zu seinem Einführungstext in das corpus.

Die Herausgeber der Schkeuditzer Lesehefte gruppieren ihre Texte nicht wie Iring Fetscher, der maßgebende bundesdeutsche Marxologe, der seit langem breit ausgewählte marxistische Texte teils nach »Quellen und Bestandteilen«, teils unter (Einzel-) wissenschaftssystematischen Gesichtpunkten bietet, auch nicht in der Art eines Lezek Kolakowski, der den »Marxismus« entlang der internen Fehden nach »Strömungen« aufteilt, sondern in Analogie zu einer enzyklopädischen Anlage unter Stichworten, aber im Unterschied wiederum zu beispielsweise Sandkühlers (marxistischer) Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaften von 1990, zu der mancher Schkeuditzer Bearbeiter seinen Beitrag als Autor geleistet hat, hier nicht als Handbuchartikel mit fachwissenschaftlichem Anspruch, sondern eben als »Leseheft«, das unter einem Stichwort kurze, aussagekräftige Texte verschiedener Autoren versammelt, ausgewählt und mit einer orientierenden Einführung versehen von ausgewiesenen Fachwissenschaftlern, die sich dem Marxschen Wissenschafts- und Politikverständnis verpflichtet fühlen.

Was auffällt - Herausgeber und Betreuer der einzelnen Stichworte sind ausnahmslos hochrangige Wissenschaftler mit internationaler Reputation, die aber ebenso allesamt mit ihrer wissenschaftlichen und lebensweltlichen Biographie der DDR zuzurechnen sind.1 Das ist nur insofern misslich, ist aber insofern misslich, als die Repräsentanz einer autochthon bundesrepublikanischen marxistischen Wissenschaft in vielen Einzelwissenschaften im internationalen Zusammenhang (Politologen, Philosophen, Historiker, Soziologen, Politische Ökonomen, Psychologen, Ökologen etc.) unter den Tisch fällt, damit Zucker für die Affen, die Marxismus gleich DDR setzen, beides gleich exotisch oder verwerflich finden und glücklicherweise als gelernte Bundesdeutsche mit dieser Ausländerei nichts zu tun haben. Kurz - es wäre zu wünschen und ist vielleicht ein erfüllbarer Wunsch, die marxistischen Wissenschaftler bundesdeutscher Provenienz - vielleicht aus jenen Arbeitszusammenhängen, die bei Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann oder Hans Heinz Holz an der Marburger Universität, beim IMSF in Frankfurt, beim Kölner Pahl-Rugenstein Verlag oder der Frankfurter Edition Suhrkamp unter verschiedenen Projektnamen angesiedelt waren - aus Gründen der leichteren (Wieder-) Einbürgerung des Marxismus in Gesamtdeutschland einzubeziehen in die Herausgeberschaft dieser Reihe. Es war schon in den 60-ern nicht ganz übel, die Vielfalt der Gesellschaften mit den Marburgern von der kapitalistisch organisierten gesellschaftlichen Reproduktionsform her als archaische Residuen, Entwicklungsphasen oder in Auseinandersetzung mit ihr entwickelte Gegenformen zu begreifen. Das erleichterte Marxismus im Hier und Jetzt. Im übrigen: So wie beispielsweise die Namen der DDR-Gewächse Hermann Klenner und Uwe-Jens Heuer über der Auswahl zu den Stichworten Recht und Demokratie Maßstäbe andeuten für die marxistische Aneignung von Rechtsphilosophie und Demokratie-Theorie, so könnten beispielsweise die Namen der BRD-Gewächse Hans-Heinz Holz und Friedrich Tomberg Maßstäbe andeuten für die marxistische Aneignung der Ästhetik und der Dialektik von Idealismus und Materialismus2.

Vor der Absicht der Reihe, zu einer Beschäftigung mit Marx zu verführen3, liegt die Überzeugung der Beteiligten, dass das Werk des organischen4 Intellektuellen Marx, das Marxsche Werkzeug noch nicht abzuschreiben ist.

In der Absicht der Reihe ist die Möglichkeit eingeschlossen, einen Beitrag zu leisten zur Generierung organischer Intellektueller, die in der Lage sind, das Marxsche Werkzeug adäquat wahrzunehmen und einzusetzen als Mittel der Politik.

Aber marxistische Politik ist nun einmal nicht weniger als Anspruch und Praxis bewusster und gemeinschaftlicher Handhabung von Naturkräften und gesellschaftlichen Potenzen zur bewussten und gemeinschaftlichen Gestaltung menschlicher Gesellschaft als eine Form der Materie. Die »Marxistischen Lesehefte« verhalten sich so gesehen zu sozialistischer Politik, wie der Kinderbesuch auf einem Flugtag an der Hand eines Piloten zum Bauen, Bedienen und Warten einer »Concorde«. Aber mit so was hat nun mal so manches angefangen.

Fünf Hefte der Reihe liegen inzwischen vor:

Marxistische Lesehefte 1

Uwe-Jens Heuer, Demokratie und Diktatur
Hermann Klenner, Recht und Gerechtigkeit

Marxistische Lesehefte 2

Erich Hahn, Ideologie
Ekkehard Lieberam, Parlamente und Parteien

Marxistische Lesehefte 3

Michael Benjamin, Macht und Gewalt
Michael Benjamin, Staat und Partei

Marxistische Lesehefte 4

Horst Heininger, Kapitalismus und Monopolkapitalismus
Harry Nick, Warenproduktion und Sozialismus

Marxistische Lesehefte 5

Harald Neubert, Weltrevolution, Wettbewerb der Systeme
Wolfgang Scheler, Krieg und Frieden

Aus der Nennung der ersten Stichworte erweist sich plastisch, warum auch unter dem Aspekt der Geheimdienstkritik die Reihe Empfehlung verdient. Von Politik, Staat und Macht ist die Rede - ausdrücklich.

Anmerkungen:
1 In dieser Zeitschrift sprechen wir von »DDR« wie von »Französischer Revolution« oder von »Pariser Kommune«. Kein Mensch - er sei denn nicht recht bei Troste - käme auf den Gedanken, von der »ehemaligen Französischen Revolution« oder der »ehemaligen Pariser Kommune« zu reden und zu schreiben.

2 Es ist ja nicht nur das noch immer grassierende Fehlurteil auszurotten, dass einerseits Materialismus und demokratischer Fortschritt von Hause aus zusammengehörten, andererseits dagegen Idealismus und Reaktion; es gehört vielmehr zur Familie des anderen grundlegenden Fehlurteils, das den Gegensatz von Materialismus und Idealismus nur unter dem Aspekt einer sich ausschließenden Polarität sehen und die Kategorien der Dialektik für diesen Zusammenhang suspendieren will.

3 Um es lerntheoretisch zu exemplifizieren: So wie Daphnis und Cloe, das geglückteste Liebespaar der Weltgeschichte, das große Glück hatten, erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern der Liebe zu begegnen, bevor sie sich gegenseitig erkannten, so gibt es hier Gelegenheit, an der Hand erfahrener Lehrer dem Marxismus zu begegnen als Vorbereitung für die Arbeit der Erkenntnis in der direkten Begegnung und Auseinandersetzung mit dem MEGA-Meister.

4 im Sinne von Organon=Werkzeug zu verstehen

hpb


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