Logo Geheim 3/1999

Lebensbeichte eines Überläufers
Ex-Agent berichtet über seinen Seitenwechsel

Zu Kölns gerne verschwiegenen Seiten gehört seine Bedeutung als Geheimdienst-Metropole. Im Heeresamt an der Bonner Straße residiert der Militärische Abschirmdienst (MAD) und an der Merianstraße 100 in Chorweiler hat sich seit einigen Jahren das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eingeigelt. Einblick in die Welt der Geheimdienste erhalten Normalsterbliche nur sehr selten, entweder wenn es um publik gewordene Skandale geht oder wenn ein »Ehemaliger« anfängt zu erzählen.

Die neueste Publikation über das BfV stammt aus der Feder von Hansjoachim Tiedge, der bis 1985 die BfV-Abteilung zur Abwehr der DDR-Spionage geleitet hatte. Am 15. September 1966 trat Tiedge seinen Dienst in der Kölner Zentrale des bundesdeutschen Inlandsgeheimdienstes an, als dieser noch an der Inneren Kanalstraße logierte. Knapp zehn Jahre später hatte Tiedge den Zenit seiner Agentenlaufbahn erreicht: »Mein Wort galt etwas in Fachkreisen«, beschreibt der ehemalige Geheimdienstler seine damalige Situation. Sein Abstieg begann, so Tiedge, als er in die Abteilung Sicherheitsüberprüfungen gekommen sei. Im August '85 erreichte er seinen persönlichen Tiefpunkt. Er konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen, und die sofortige Versetzung war nur noch eine Frage der Zeit. Selbstmord oder Überlaufen seien seine Alternativen gewesen, bekennt der heute 62-jährige. »Zum Selbstmord fehlte mir nach wie vor der Mut - mir blieb nur der Übertritt«, gesteht der Ex-Agent.

Am 19. August 1985 verließ Tiedge die Domstadt, und am Nachmittag desselben Tages betrat er in Helmstedt/Marienborn das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Tiedges Schritt bescherte seinem Dienst den größten Skandals, seit 1954, als der Verfassungsschutz-Präsident Otto John in die DDR übergewechselt war. 1985 nutzte das Ministerium für Staatssicherheit den Glücksfall Tiedge, um seinen tatsächlichen Spion in der Kölner Behörde, Klaus Kuron, zu decken. Dieses Versteckspiel kostete einem BfV-Agenten in der DDR das Leben, wie Tiedge kürzlich in einem ARD-Interview freimütig zugab.

Tiedges Memoiren werden dem selbstgewählten Anspruch gerecht, eine Lebensbeichte zu sein. Er versucht nicht, sein Handeln und seine Taten zu entschuldigen, wohl aber sie zu erklären. Das gelingt ihm so gut, dass auch Außenstehende den Höhen und Tiefen seines Lebens quer durch die Büros des BfVs mit samt ihrer Intrigen und vor dem Hintergrund der damaligen Zeit folgen können. Das Buch und sein Informationsgehalt erschienen der bundesdeutschen Justiz so brisant, dass sie auf der Frankfurter Buchmesse 1998 versuchte, Tiedges Lebensbeichte zu konfiszieren. Nach einer kurzen Periode im Internet-Exil ist sie jetzt wieder in Buchform erhältlich.

Tiedge, Hansjoachim. Der Überläufer. Eine Lebensbeichte. Berlin: Das Neue Berlin, 1998.

Ingo Niebel


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