Logo Geheim 2/1999

Zur NATO-Strategie in Jugoslawien

Es gibt viele Gründe für die Verlegung von NATO-Einsatzkräften in den Balkan und besonders für die (...) NATO-Erweiterung um Polen, die Tschechische Republik und Ungarn. Sie hängen mit der sich herausbildenden Strategie ab, die Rohstoffe der Region am Kaspischen Meer zu »sichern« sowie die Länder Ost-Europas zu »stabilisieren« - letztlich, um auch Rußland und die Länder der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS) zu »stabilisieren«. Dies ist jedoch, um es milde zu formulieren, eine extrem ambitionierte und potentiell in sich widersprüchliche Politik. Es ist daher wichtig, einige grundsätzliche Fragen über die Hintergründe dieser Politik zu stellen.

Die »Stabilisierung« jener Länder, die früher das sozialistische Lager in Europa bildeten, bedeutet jedoch nicht nur, zu gewährleisten, daß jene Regime an der Macht bleiben, die den Sozialismus abgelöst haben. Es bedeutet vor allem auch, daß die derzeitigen ökonomischen und sozialen Bedingungen dort unverändert bleiben. Und, da der sogenannte Wandel zur Demokratie in den betroffenen Ländern praktisch zu einer De-Industralisierung und einem Zusammenbruch des Lebensstandards für die Mehrheit der Bevölkerung geführt hat, muß man sich auch fragen, ob dies tatsächlich erstrebenswert ist.

Diese Frage ist um so mehr drängender, da diese Art von »Stabilisierung« - so jedenfalls, wie sie vom Westen verstanden wird - eine Reproduktion von jenen sozialen Bedingungen in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers bedeutet, wie sie ähnlich den in den westlichen Ländern vorherrschenden sozialen und ökonomischen Strukturen sind. Es ist jedoch eine Tatsache, daß sich die ökonomischen Systeme der westlichen Industrieländer in einem Stadium des Fast-Zusammenbruchs befinden, obwohl die Regierungen dieser Länder diese Realität nicht zugeben. Trotzdem kommt jede realistische Analyse der wirtschaftlichen Situation des Westens zu diesem Ergebnis, ein Ergebnis, das durch offizielle Statistiken und Analysen anerkannter Wirtschaftswissenschaftler gestützt wird.

Es ist jedoch zudem klar, daß jeder Versuch, die Länder des ehemals sozialistischen Lagers auf diese Weise zu »stabilisieren«, erhebliche Spannungen mit Rußland - und auch potentiell mit anderen Ländern - nach sich zieht. Nicht wenige Kommentatoren haben daher bereits betont, daß westliches Bestreben, die NATO zu erweitern, die Gefahr einer nuklearen Konfrontation heraufbeschwört.1

Es genügt, diese Fragen nur kurz anzureißen, um zu erkennen, daß die NATO-Erweiterung de facto bereits in Jugoslawien begonnen hat und daß sie für andere Länder zum Teil auf einer Basis geplant ist, die verwirrend und irrational ist. Man ist in der Versuchung, festzustellen, daß all dies aus der Furcht und den Wunschvorstellungen einiger herrschenden Gruppen heraus resultiert. Um es einmal ganz offen auszusprechen: Warum sollte die Welt irgendeinen Vorteil in der gewaltsamen Ausweitung des ökonomischen Chaos sehen, das im Westen vorherrschend ist und warum sollte irgendjemand einen Vorteil in einem Prozeß sehen, der die Gefahr eines nuklearen Krieges heraufbeschwören kann?

Das Ziel dieser Studien ist es, aufzuzeigen, was hinter den derzeitigen Versuchen steckt, die NATO zu erweitern und zugleich einige grundsätzliche Fragen dahingehend aufzuwerfen, ob diese Pläne überhaupt einen Sinn machen, im engeren wie im weiteren Sinne gedacht.

Die NATO in Jugoslawien

Die NATO wurde 1949 mit dem vorgegebenen Auftrag gegründet, West-Europa vor einer möglichen militärischen Aggression der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu schützen.

Mit der Auflösung der kommunistischen Regierungen des ehemaligen sozialistischen Lagers 1990 und 1990 hat jede Möglichkeit einer solchen Aggression aufgehört zu existieren - wenn sie denn jemals existiert hat. Diese Veränderungen in den ehemaligen kommunistischen Ländern haben die NATO also überflüssig gemacht, der Grund für ihre Existenz war verschwunden. Dennoch begannen verschiedene Gruppen von NATO-Ländern nahezu zeitgleich mit diesen Entwicklungen damit, Druck für eine »Erneuerung« der NATO zu entfalten und sogar für eine Erweiterung nach Zentral- und Ost-Europa zu plädieren. Sie begannen damit, neue Gründe dafür zu entwickeln, um mit dem »business as usual« weiterzuverfahren. Der wichtigste von ihnen war die Annahme, daß mit den Veränderungen, die zum Ende des Kalten Krieges geführt hatten, »neue Sicherheitsrisiken« außerhalb des traditionellen NATO-Gebietes aufgetaucht seien, die eine Weiterexistenz dieser Organisation angeblich notwendig machen. Die Vertreter dieser Position argumentierten, daß die NATO nun neue Aufgaben zur Rechtfertigung ihres Fortbestehens finden müsse.

Die implizite Voraussetzung hierfür war, daß die NATO weiterbestehen muß, um die Führerschaft der Vereinigten Staaten in europäischen und Weltangelegenheiten zu sichern. Dies war mit Sicherheit einer der Gründe, der hinter der umfangreichen westlichen Intervention in Kuwait und Irak in den Jahren 1990 und 1991 steckte, wobei jedoch die NATO-Partner der USA nur eine eher untergeordnete Rolle spielten. Die Koalition, die gegen den Irak gekämpft hatte, war nur mit viel Mühe zusammengeschustert worden. Aber sie war von der US-Regierung für notwendig befunden worden, um die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten innerhalb des westlichen Bündnisses sowie global abzusichern.

Der Slogan, den die Befürworter einer NATO-Erweiterung von Anfang an benutzten lautete: »Die NATO entweder außerhalb ihres traditionellen Gebietes einsetzen oder sie aufzulösen« (»NATO: out of area or out of business«). Dies trifft in aller Offenheit den Punkt, obwohl nicht das Argument.2

Jugoslawien ist ebenfalls ein Testfall gewesen und mit Sicherheit ein noch bedeutenderer. Die Krise in Jugoslawien explodierte in der Mitte Europas und die westeuropäischen Nationen mußten etwas unternehmen. Auf der anderen Seite waren es Deutschland und die USA, die die Bürgerkriege in Jugoslawien - besonders in Bosnien - verlängerten, obwohl sie doch scheinbar für deren Ende eintraten.3 Dies hielt die jugoslawische Krise am Leben und vertiefte sie ständig.

Es ist wichtig, zu erkennen, daß die NATO praktisch vom Beginn der Krise in Jugoslawien nach Mitteln und Wegen suchte, sich einzuschalten. Diese Einmischung wurde 1993 deutlich, als die NATO damit begann Operationen der UNPROFOR (»Friedenstruppe« der UN, d.Übers.) in Jugoslawien zu unterstützen, besonders hinsichtlich der Blockade gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (in bundesdeutschen Medien zumeist verkürzt als Serbien dargestellt, d.Übers.) und der Durchsetzung einer Flugverbotszone über Bosnien.

Das NATO-Engagement hatte jedoch zunächst noch einen viel kleineren Umfang und es sollte in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß die NATO als Organisation bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Krieges in Bosnien-Herzegovina involviert war. Bereits 1992 hatte die NATO ein Kontingent von 100 Mann dorthin geschickt, wo sie ihr Hauptquartier bei Kiseljak, nur wenige Kilometer von Sarajewo entfernt, aufschlugen. Offiziell war deren Auftrag die Unterstützung der Kräfte der Vereinten Nationen.

Es war jedoch von Anfang an klar, daß bereits diese Stationierung andere Gründe hatte. So hat ein NATO-Diplomat diese Operation zur damaligen Zeit gegenüber dem Hintergrundmagazin »Intelligence Digest« wie folgt beschrieben:

»Dies ist ein sehr vorsichtiger erster Schritt und wir werden über ihn nicht viel Lärm machen. Aber er könnte der Beginn von etwas Größerem werden (...). Sie können nun davon ausgehen, daß die NATO einen Fuß in der Tür hat. Ob wir in der Lage sein werden, die Tür ganz zu öffnen, ist noch nicht sicher, aber wir haben einen Anfang gemacht.«4

Es scheint also den Kommandeuren der NATO bereits damals klar gewesen zu sein, daß es möglich sein werde, die Widerstände gegen den deutschen und amerikanischen Druck zu überwinden und daß daraus resultierend die Rolle der NATO schrittweise ausgebaut werden würde.

Die NATO hat bereits von Beginn es Krieges in Bosnien-Herzegowina daran gearbeitet, dort eine erste große »out of area« Mission ins Leben zu rufen. Die 1996 erfolgte Entsendung von Zehntausenden von Soldaten nach Bosnien, Österreich, Ungarn, Kroatien und Serbien ist somit lediglich die Kulmination eines Prozesses, der bereits vier Jahre zuvor begonnen hatte. Es war also keine Frage von Vorschlägen und Konferenzen. Die entscheidende Frage war, Operationen zu schaffen, die, mit der Unterstützung der wichtigsten Länder, schließlich zu einem aktiven »out of area« Engagement führen würden und somit zugleich zur Erneuerung der Organisation selber.

Die NATO-Erweiterung in Ost-Europa

Die NATO hatte niemals eine förmliche Studie zur Thematik ihrer Erweiterung erarbeitet, bis eine spezielle Arbeitsgruppe der NATO (...) einen Bericht hierüber veröffentlichte. Ohne Zweifel hatte es zuvor geheime Studien gegeben, die jedoch nicht an die Öffentlichkeit drangen.

Trotz dieses Fehlens einer klaren Analyse haben jedoch jene Mechanismen von Ende 1991 an hart gearbeitet, die diese Sache voranbringen sollen. So rief die NATO Ende des gleichen Jahres den »Nord-Atlantischen Kooperationsrat« (North Atlantic Cooperation Council/NACC) ins Leben. Die NATO-Mitgliedsstaaten luden 9 zentral und osteuropäische Länder ein, dem NACC beizutreten, mit dem Ziel die Zusammenarbeit zwischen den NATO-Mächten und Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes zu verstärken.

Dies war ein erster Versuch, etwas jenen osteuropäischen Ländern anzubieten, die der NATO selbst beitreten wollen. Der NACC war jedoch nicht in der Lage, die Forderungen dieser Länder vollständig zu befriedigen, und so starteten die Vereinigten Staaten zu Beginn des Jahres 1994 das Projekt »Partnerschaft für den Frieden« (»Partnership for Peace«/PFP). Dieses »Partnerschafts-Konzept« eröffnet jenen Nationen, die der NATO beitreten wollen, die Möglichkeit, an militärischen Ausbildungsprogrammen und »friedenserhaltenen Maßnahmen« teilzunehmen. Mehr als 20 Länder, einschließlich Rußland, nehmen inzwischen an dem PFP teil.

Viele dieser Länder streben danach, schließlich Vollmitglied der NATO zu werden. Rußland wird dies sicherlich nicht tun. Es wendet sich gegen jede NATO-Osterweiterung. Das »Center for Defense Information« (Zentrum für Verteidigungsinformationen) in Washington - eine anerkannte, unabhängige Institution, die zu militärischen Angelegenheiten recherchiert und Stellung bezieht - geht davon aus, daß Rußland nur am PFP-Konzept teilnimmt, »um zu verhindern, völlig aus europäischen Sicherheitsstrukturen ausgeschlossen zu werden«.5

Die Entwicklung, die NATO nach Ost-Europa hin zu erweitern, verstärkt sich also ständig. Die Gründung des NACC war zunächst mehr oder weniger der Ausdruck von Offenheit und Sympathie gegenüber jenen Ländern, die eine volle NATO-Mitgliedschaft anstreben. Das Konzept der »Partnerschaft für den Frieden« ist weitaus konkreter. Es hat praktisch ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes in NATO-Operationen einbezogen. Und es verfolgt zugleich eine zweigleisige Politik gegenüber Rußland, indem es ihm eine mehr oder weniger lose Beziehung mit der NATO zugesteht und zugleich Rußlands Sorgen über eine NATO-Osterweiterung mildern soll.

Dennoch gibt es trotz dieser anhaltenden Entwicklung außer ein paar vagen Erklärungen bisher noch keine umfassende, öffentliche Erklärung für die Hintergründe der Osterweiterung der NATO. Das führt natürlich zu der Frage, was die treibende Kraft für die NATO-Erweiterung während der letzten vier Jahre war. Diese Frage muß für zwei Gebiete gestellt werden: den Balkan und die Länder Zentral-Europas. Auf dem Balkan, besonders im Süden dieser Region, findet derzeit ein sehr wichtiger Kampf um die Vorherrschaft statt. Und die NATO ist in diese Auseinandersetzung involviert. Es gibt zudem bei einigen westlichen Ländern eine Rückentwicklung hin zur Politikmustern des Kalten Krieges. Und diese Entwicklung trägt die NATO nach Zentraleuropa.

Der Kampf um die Vorherrschaft auf dem Balkan

Wir sind seit 1990 Zeugen einer lang anhaltenden und qualvollen Krise in Jugoslawien. Ihr Ergebnis ist der Tod von Zehntausenden von Menschen, die Vertreibung von vielleicht 2 Millionen Menschen aus ihren Wohngebieten, ein Aufruhr auf dem Balkan. Im Westen nimmt man in der Regel an, daß diese Krise, einschließlich der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, das Resultat von internen Konflikten in Jugoslawien sind, insbesondere von Konflikten zwischen Kroaten, Serben und bosnischen Moslems. Diese Erklärung liegt jedoch weit entfernt von den tatsächlichen Ursachen.

Das Hauptproblem von Beginn an war die ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Zwei westliche Mächte, die Vereinigten Staaten und Deutschland, haben systematisch daran gearbeitet, das Land zu destabilisieren und auseinanderzubrechen.6 Dieser Prozeß war bereits in den 80er Jahren in vollem Gange und erreichte seinen Höhepunkt, als das jetzige Jahrzehnt begann. Beide Mächte planten, vorbereiteten und unterstützten jene Sezessionen sorgfältig, die Jugoslawien auseinanderbrechen ließen. Und sie haben alles in ihrer Macht stehende unternommen, um die Bürgerkriege auszuweiten und am Leben zu halten, die in Kroatien begannen und sich schließlich auf Bosnien-Herzegowina ausdehnten. Sie waren im Hintergrund in jeden Entwicklungsschritt der Krise involviert.

Die ausländischen Einmischungen waren darauf angelegt, genau jene Konflikte aufzubauen, die die westlichen Mächte benötigten, da sie als bequemer Anlaß für offene Interventionen dienten, als die Bürgerkriege begonnen hatten.

Darüber wird im Westen natürlich nicht gesprochen. Das hängt vor allem damit zusammen, daß die Öffentlichkeit im Westen systematisch mit Kriegspropaganda desinformiert wurde. Sie hat daher praktisch von Anfang an jene Version der Ereignisse akzeptiert, wie sie von den Regierungen verkündet und von den Massenmedien verbreitet wurde. Es ist nichtsdestotrotz wahr, daß Deutschland und die Vereinigten Staaten die Hauptverantwortlichen für die Zerstückelung Jugoslawiens und das daraus entstandene Chaos sind.

Dies ist eine häßliche Tatsache in dieser neuen Ära von Realpolitik und geopolitischen Auseinandersetzungen, die den Kalten Krieg abgelöst haben. Geheimdienstquellen haben in jüngster Vergangenheit in überraschender Offenheit damit begonnen, sich dieser Realität auch »öffentlich« zu nähern. So berichtete zum Beispiel im Sommer 1995 der »Intelligence Digest« - ein anerkannter Hintergrunddienst, der in Großbritannien erscheint -, daß »die von Anfang an vorhandenen US-amerikanisch/deutschen Pläne für das ehemalige Jugoslawien ein unabhängiges, von Moslems und Kroaten dominiertes Bosnien-Herzegowina in Allianz mit einem unabhängigen Kroatien und neben einem stark geschwächten Serbien (vorsahen).«7

Jeder politisch Verantwortliche in den meisten westlichen Regierungen weiß, daß diese Aussage absolut zutrifft. Das bedeutet natürlich ebenfalls, daß die Standard-Formeln von der »serbischen Aggression«, die Ursache des Konflikts sei, sowie Kroatiens als »neuer Demokratie« etc. nicht nur unwahr sind, sondern mehr noch darauf abzielen, von den eigentlichen Hintergründen abzulenken.

Aber warum? Warum sollten die Medien versuchen, die öffentliche Meinung im Westen irre zu führen? Es ging nicht nur einfach darum, daß die offene und weit reichende Intervention in die Angelegenheiten Jugoslawiens vor der Öffentlichkeit versteckt werden sollte. Es ging vor allem auch darum, zu verhindern, daß die Menschen sich fragen würden, warum Deutschland und die Vereinigten Staaten zielgerichtet solche Verwüstungen auf dem Balkan anrichteten. Sie würden in diesem Falle dann unvermeidbar die tatsächlichen Hintergründe für diese Aktionen wissen wollen. Es ging also darum, all dies noch sorgfältiger zu verstecken als die zerstörerischen Aktionen der Großmächte selbst.

Die Wurzel des Problems war, daß die Vereinigten Staaten einen extrem ambitionierten Plan für ganz Europa hatten. Es wird heute ganz offen festgestellt, daß sich die USA selbst als »europäische Macht« verstehen. In den 80er Jahren war eine solche Vorstellung noch nicht so einfach vorgetragen werden. Das würde damals noch zu viel Widerstand unter den westlichen Verbündeten hervorgerufen haben, aber die Versuche der USA, ihre Dominanz über Europa zu etablieren, waren dennoch eine Tatsache und die USA planten bereits damals, über was sie heute sehr offen reden.

Erst vor kurzen hat der Staatssekretär für europäische Angelegenheiten im Außenministerium (»Assistant Secretary of State for European Affairs«), Richard Holbrooke, die offizielle Position recht klar ausgedrückt. In einem vor nicht langer Zeit in den einflußreichen Magazin »Foreign Affairs« erschienenen Beitrag hat er die USA nicht nur als »europäische Macht« beschrieben, sondern mehr noch die anspruchsvollen Pläne offengelegt, die die Vereinigten Staaten hinsichtlich Europas haben. Er bezog sich dabei auf das kollektive Sicherheitssystem - einschließlich der NATO -, das die USA und ihre Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten. Mr. Holbrooke führte in diesem Zusammenhang ferner aus:

»In dieser Zeit müssen die Vereinigten Staaten den Aufbau einer Sicherheitsarchitektur anführen, die das gesamte Europa einbezieht und damit stabilisiert - den Westen, die ehemaligen sowjetischen Satelliten Zentral-Europas und, das ist besonders kritisch, Rußland und die ehemaligen Republiken der Sowjetunion.«7

Kurz gesagt, es ist nun offizielle Politik, sich in Richtung einer Integration ganz Europas in das ökonomische und politische System zu bewegen und dies mit Hilfe einer »amerikanischen Führungsrolle« zu bewerkstelligen. Dies ist nichts anderes als eine höfliche, wenn auch irreführende, Beschreibung für die Einverleibung der ehemaligen sozialistischen Länder in ein großes neues Reich.8

Daher dürfte es nicht überraschen, daß der Rest des Artikels von Holbrooke die Notwendigkeit der Erweiterung der NATO beschreibt, um jene »Stabilität« in Europa sicherzustellen. Mr. Holbrooke sagt ganz deutlich, daß die »Erweiterung der NATO eine essentielle Konsequenz aus dem Verschwinden des ,eisernen Vorhangs' ist.«9

Das wiederum bedeutet doch nichts anderes, als daß hinter den wiederholten Interventionen in die Krise Jugoslawiens nichts anderes als langfristige Pläne für Gesamt-Europa stecken.

Als Teil dieses sich entwickelnden Systems waren Deutschland und die Vereinigten Staaten von Anfang an darauf aus, den Balkan neu zu ordnen, basierend auf der marktwirtschaftlichen Organisation der Wirtschafsstrukturen sowie der parlamentarischen Demokratie. Sie woll(t)en damit dem Sozialismus auf dem Balkan ein endgültiges Ende bereiten.10 Dem Anschein nach wollten sie lediglich die »Demokratie« durch eine Anerkennung der Unabhängigkeitsbewegungen - wie in Kroatien
- »stärken«. Tatsächlich war dies jedoch nur ein Trick, um den Balkan in kleine und verwundbare Staaten zu zerstückeln. Hinter der Maske der »Stärkung der Demokratie« wurde jedoch somit der Weg für eine neue Kolonisierung des Balkan eröffnet.

1990 hatten bereits die meisten osteuropäischen Länder auf westlichen Druck hin reagiert und etwas auf den Weg gebraucht, was sie irreführend »Reformen« nannten. Einige dieser Länder hatten alle westlichen Bedingungen für Hilfe und Handel akzeptiert, andere, vor allem Bulgarien und Rumänien, jedoch nur teilweise.

In Jugoslawien gab es aber Widerstand. Die Wahlen des Jahres 1990 in Serbien und Montenegro hatten eine sozialistische oder sozialdemokratische Partei an der Macht gelassen. Die Bundesregierung dieses Landes blieb daher in Händen von Politikern, die zwar auf den Druck nach »Reformen« von Zeit zur Zeit reagierten, jedoch trotzdem gegen eine Rekolonisierung des Balkan eingestellt waren. Und viele von ihnen waren gegen eine Zerstückelung Jugoslawiens. Da die dritte jugoslawische Republik, die im Frühjahr 1992 gegründet worden war, über eine industrielle Basis und eine große Armee verfügte, mußte dieses Land zerstört werden.

Für die Deutschen war dies nichts anderes als die Fortsetzung einer Politik, wie sie bereits vom Kaiser und den Nazis verfolgt worden war.

Nachdem Jugoslawien einmal zerteilt und ins Chaos gestürzt worden war, war es möglich geworden, diese zentrale Region des Balkans neu zu organisieren. Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina fielen dabei in die deutsche Einflußsphäre. Deutschland gewann so Zugang zur Adria und potentiell, falls die Serben in die Knie gezwungen würden, zum neuen Rhein-Donau-Kanal, der in der Lage ist Schiffe von einer Kapazität bis zu 3.000 t von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer fahren zu lassen. Die südlichen Gebiete Jugoslawiens waren als Interessensgebiet der USA vorgesehen. Mazedonien, das die einzigen ost-westlichen sowie nord-südlichen Routen über das Balkan Gebirge kontrolliert, war als zentrales Stück dieser von den USA beherrschten Region vorgesehen. Zu dieser amerikanischen Einflußsphäre sollten jedoch ebenfalls Albanien sowie der Sanjak und Kosovo gehören, falls es gelingen sollte, diese von Serbien abzuspalten. Einige amerikanische Strategen sprachen in diesem Zusammenhang bereits schon von einem Groß-Albanien, das - unter amerikanischer und türkischer Kontrolle - aus einer Kette von kleineren islamischen Staatengebilden, möglicherweise sogar einschließlich Bosnien-Herzegowinas und mit Zugang zur Adria, entstehen sollte.

So ist es nicht überraschend, daß Deutschland und die USA, obwohl sie noch gemeinsam für die Zerschlagung Jugoslawiens verantwortlich waren, heute um die Vorherrschaft in den verschiedenen Teilen des Landes, besonders Kroatien und Bosnien-Herzegowina, kämpfen. Es gibt tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Auseinandersetzung um den Einfluß und wirtschaftliche Vorteile auf dem gesamten Balkan.11 Die Hauptkonkurrenz finden zwischen Deutschland und den USA statt, jene Partner, die Jugoslawien zerrissen haben, aber bedeutende Firmen und Banken anderer europäischer Länder sind ebenfalls beteiligt. Die Situation ähnelt jener, die in der Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen von 1938 geschaffen wurde; vertraglich wurde die Aufteilung der Beutestücke beschlossen, um Zusammenstöße zu vermeiden, die schließlich in einen Krieg münden würden.

Das neue »große Spiel« am Kaspischen Meer

Die Bedeutung Jugoslawiens liegt nicht nur in seiner eigenen Lage auf der Landkarte, aber auch in den Gebieten, zu denen es Zugang erlaubt. Einflußreiche amerikanische Analytiker gehen davon aus, daß es in der Nähe eines Gebietes von vitalem US-Interesse liegt, der Region des Schwarzen und Kaspischen Meeres. Das mag dann auch die eigentliche Bedeutung des Einsatzes der NATO-Kräfte in Jugoslawien erklären.

Der Vereinigten Staaten sind derzeit dabei, einen neuen Block aus Nationen Europas und des Mittleren Ostens zu schmieden. Sie präsentieren sich dabei selber als Führerin einer informellen Gruppe von islamischen Staaten, deren Gebiete vom Persischen Golf bis zum Balkan reichen. Diese Gruppe schließt die Türkei ein, deren Bedeutung als Dreh- und Angelpunkt dieses Blocks liegt. Die Türkei ist nicht nur ein Teil des südlichen Balkan und eine ägäische Macht, sondern sie grenzt zudem an den Iran, Irak und Syrien. Dieses Land verbindet daher Süd-Europa mit dem Nahen Osten, den die USA als lebenswichtiges Interessensgebiet betrachten.

Die USA hoffen darauf, in der Lage zu sein, diese informelle Allianz von islamischen Staaten im nahen Osten und Süd-Europas auf einige der neuen Nationen ausbauen zu können, die im südlichen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entstanden sind.

Nach den Gründen hierfür braucht man nicht lange zu suchen. Die Vereinigten Staaten haben sich selbst die Aufgabe gestellt, in einer neuen Suche nach Rohstoffen in der Welt engagiert zu sein, wobei Öl von besonderer Bedeutung ist. Mit dem Krieg gegen den Irak haben die USA ihre Position im Nahen Osten so sicher wie nie zuvor gemacht. Die fast zeitgleiche Auflösung der ehemaligen Sowjetunion hat nun den westlichen Mächten die Möglichkeit eröffnet, die Rohstoffe der Region um das Kaspische Meer auszubeuten.

Diese Region ist extrem reich an Öl- und Gasvorkommen. Es gibt westliche Analytiker, die glauben, daß sie einmal für den Westens genauso wichtig werden könne wie die Region des Persischen Golfs. Länder wie Kazakhstan haben enorme Ölreserven, möglicherweise im Umfang von 9 Milliarden Barrel. Kazakhstan könnte bis zu 700.000 Barrel pro Tag fördern. Das Problem mit den Ländern dieser Sicht ist - zumindest aus westlicher Sicht - , das Öl und Gas auf sicheren Routen in den Westen zu transportieren. Der Transport von Öl und Gas ist nicht einfach nur ein technisches Problem, es vor allem auch ein politisches.

Daher ist es von herausragender Bedeutung für die USA und andere westliche Länder, freundschaftliche Beziehungen zu Ländern wie Kazakhstan zu unterhalten. Noch wichtiger ist es, davon ausgehen zu können, daß alle Rechte, Öl zu fördern oder Pipelines zu bauen, auch in der Zukunft respektiert werden, da die Summen, die als Investitionen in der Region benötigt werden.

Das bedeutet, daß die westlichen Produzenten, Banken, Ölgesellschaften etc. einer »politischen Stabilität« in der Region versichert sein wollen. Sie möchten versichert sein, daß es künftig keine politischen Veränderungen geben kann, die ihre neuen oder künftigen Interessen bedrohen können.

Ein wichtiger Artikel in der »New York Times« hat (...) etwas beschrieben, was in diesem Artikel das neue »große Spiel« in dieser Region genannt wurde, wobei der Autor eine Analogie zum Konkurrenzkampf zwischen Rußland und Großbritannien an der nordwestlichen Grenze des indischen Subkontinents im neunzehnten Jahrhundert zog:

»Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Vereinigten Staaten heute dabei, ihre Oberherrschaft über das Reich ihres ehemaligen Gegners zu etablieren. Die Auflösung der Sowjetunion hat die USA dazu veranlaßt, ihre Zone der militärischen Vorherrschaft (mit Hilfe der NATO) nach Ost-Europa und in das ehemals neutrale Jugoslawien auszudehnen. Und, was am wichtigsten von allem ist, das Ende des Kalten Krieges hat es Amerika erlaubt, seine Einmischung in den Nahen Osten zu vertiefen.«12

Natürlich hat es verschiedene Gründe dafür gegeben, daß die politischen Führer des Westens versuchen, die NATO zu erweitern. Einer davon - und ein sehr gewichtiger - war und ist sicherlich ein ökonomischer.13 Dies wird umso deutlicher, betrachten man einmal etwas genauer die sich parallel vollziehende Entwicklung der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region am Kaspischen Meer und die Bewegung der NATO hin zum Balkan.

Am 22. Mai 1992 veröffentlichte die NATO eine wirklich bemerkenswerte Stellungnahme zu den damals stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen in Transkaukasien; sie sei daher nachfolgend in Auszügen zitiert:

»Die Alliierten sind von den anhaltenden Konflikt und den Verlusten an Menschenleben stark betroffen. Es kann keinerlei gewaltsame Lösung für das Problem von Nagorno-Karabach oder die Auseinandersetzungen, die dieses zwischen Armenien und Azebaijan hervorgerufen hat, geben. Jegliche Aktion gegen die staatliche Integrität Azerbaijans oder eines anderen Staates mit dem Zweck, politische Ziele zu erreichen, wäre eine flagrante und nicht zu akzeptierende Verletzung der internationalen Gesetze. Insbesondere können wir (die NATO) nicht akzeptieren, wenn der anerkannte Status von Nagorno-Karabach oder Nakhichevan einseitig und mit Gewalt geändert wird.«14

Dies war in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Stellungnahme, da sie praktisch eine verschleierte Warnung ausdrückte, die nichts anderes besagt, als daß die NATO »Schritte« einleiten würde, um Aktionen von Regierungen in der Region am Kaspischen Meer zu begegnen, die die NATO als Bedrohung für vitale westliche Interessen ansieht.

Zwei Tage, bevor die NATO diese ungewöhnliche Erklärung hinsichtlich ihrer Interessen in transkaukasischen Angelegenheiten abgegeben hatte, hatte die amerikanische Ölgesellschaft Chevron einen Vertrag mit der Regierung von Kazakhstan für die Entwicklung der Ölfelder von Tengiz und Korolev im westlichen Teil dieses Landes abgeschlossen. Und zuverlässige Quellen berichteten, daß die Verhandlungen über den Vertragsabschluß gerade zu jener Zeit wegen den von Chevron befürchteten politischen Instabilität in der Region zu scheitern drohten.15

Als die NATO jene Erklärung herausgab, gab es natürlich für sie noch keine Möglichkeit, ihre Warnung auch Realität werden zu lassen. Zunächst hatte es bisher noch keinen großen »out or area«-Einsatz der NATO gegeben und vor allem waren NATO-Kräfte geographisch noch weit von Transkaukasien entfernt. Es bedeutet jedoch nicht einmal einen Blick auf die Landkarte, in den Balkan, zum Schwarzen und Kaspischen Meer, um zu begreifen, daß sich diese Situation jetzt ändert.

Der nächste Schritt: »Stabilisierung« des Ostens

Der derzeitige Druck, die NATO nach Zentral- und Ost-Europa zu erweitern ist Bestandteil der Bemühungen, etwas zu schaffen, was fälschlicherweise oft »Neue Weltordnung« genannt wird. Es ist das politisch-militärische Komplementärstück der Wirtschaftspolitik, wie sie von den wichtigsten westlichen Mächten initiierte wurde, um die Gesellschaften Zentral- und Ost-Europas zu verändern.

Die Vereinigten Staaten, Deutschland und einige ihrer Verbündeten versuchen tatsächlich eine weltumspannende Ordnung aufzubauen, die sich um das Wirtschaftssystem der nordatlantischen Gemeinschaft herum erstreckt. Es gibt eigentlich nichts wesentlich Neues in jener Ordnung, die da entstehen soll. Sie basiert auf kapitalistischen Institutionen. Was neu daran ist, ist daß sie versuchen, diese »alte Ordnung« auf jene riesigen Territorien auszudehnen, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus ins Chaos gestürzt wurden. Sie versuchen weiterhin jene Länder in diese Art von »Ordnung« einzuverleiben, die bisher noch nicht Teil von ihr waren.

In einem Wort, sie versuchen, eine funktionierendes kapitalistisches System in Ländern zu etablieren, die für Jahrzehnte unter sozialistischen Bedingungen gelebt haben oder dies in Ländern zu tun, die, wie Angola, versucht haben, sich vom Kapitalismus zu befreien.

Während sie zum einen versuchen, diese »Neue Weltordnung« ins Leben zu rufen, müssen sie zugleich daran denken, wie sie sie verteidigen können. Das bedeutet, daß sie in ihrer letztendlichen Analyse müssen sie daran denken, ihre militärische Macht auf diese neuen Gebiete Europas auszudehnen und sie dem Nordatlantischen Bündnis anzuschließen. In diesem Zusammenhang macht die Rolle der NATO in der neuen europäischen Ordnung Sinn.

Die beiden wichtigsten Architekten, die dieses neue, integrierte und kapitalistische Europa schaffen, sind die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland. Praktisch haben sie eine enge Allianz gebildet, in der die Vereinigten Staaten von Deutschland erwarten, nicht nur die west- sondern auch die osteuropäischen Angelegenheiten zu regeln. Deutschland ist damit inzwischen, wie es George Bush 1989 in Mainz ausgedrückt hat, zu einem »Partner in der Führung« geworden.

Diese enge Beziehung bindet die USA eng an die deutschen Vorstellungen hinsichtlich der Zukunft von - wie es deutsche und amerikanische Analytiker formulieren - Zentral-Europa: 1) die Ausweitung der Europäischen Union nach Osten, 2) die deutsche Vormachtstellung in Europa und 3) eine neue Arbeitsteilung in Europa.

Es ist die Idee einer neuen Arbeitsteilung, die von besonderer Bedeutung ist. Aus der Sicht Deutschlands wird Europa künftig in Form von konzentrischen Ringen organisiert sein, die sich um ein Zentrum drehen, und dieses Zentrum soll Deutschland sein. Das Zentrum wird die am meisten entwickelte, auf höchstem technischen Niveau stehende und reichste Region sein. Dort werden die höchsten Gehälter gezahlt und das höchste Pro-Kopf-Einkommen erzielt werden. Und es wird nur in jenen ökonomischen Bereichen aktiv sein, die am profitabelsten sind, solche, die als Kommandohöhen des gesamten Systems funktionieren. Auf diese Weise wird Deutschland verantwortlich werden für die industrielle Planung, die Entwürfe, die technologische Entwicklung etc. all jener Aktivitäten, die die in anderen Regionen gestalten und koordinieren.

Wenn man sich dann von diesem Zentrum wegbewegt, so wird jeder konzentrische Ring ein niedriges Niveau an Entwicklung, Reichtum und Einkommen aufweisen. Der Ring, der Deutschland direkt umgeben wird, wird über profitable Produktionskapazitäten sowie Dienstleistungen verfügen. Er wird vor allem aus Großbritannien, Frankreich, Belgien, Holland und dem nördlichen Italien bestehen. Das allgemeine Einkommensniveau wird hoch sein, aber nicht so hoch wie in Deutschland.

Der nächste Ring wird dann die ärmeren Teile West-Europas und einige Bereiche Ost-Europas umfassen, mit nur einigen Produktionskapazitäten, weiterverarbeitender und Nahrungsmittel-Produktion. Einkommen und Gehälter werden in diesem Ring deutlich unter denen im Zentrum liegen.

Es braucht nicht zu betont werden, daß die wesentlichsten Gebiete Ost-Europas zum äußeren Ring gehören werden. Damit wird Ost-Europa faktisch zum Tributpflichtigen des Zentrums degradiert. Es wird zwar einige Produktionskapazitäten haben, jedoch hauptsächlich nicht für den eigenen Verbrauch. Fast alle produzierten Waren, Rohstoffe und sogar Nahrungsmittel werden exportiert werden. Mehr noch, sogar der produzierende Sektor wird extrem niedrige Löhne und Gehälter zahlen. Die Höhe der Gehälter und Löhne und damit des Einkommens wird sogar noch niedriger sein, als es in der Vergangenheit war.

Kurzum, fast gesamt Ost-Europa wird in diesem neuen, integrierten System ärmer sein, als wenn die osteuropäischen Länder die Möglichkeit gehabt hätten, ihre eigenen Wirtschafts- und Entwicklungsentscheidungen zu treffen. Die einzige mögliche Entwicklung von Gesellschaften, die von mächtigen ausländischen Kapital unterwandert und von den Gesetzen des IMF behindert werden, ist die einer abhängigen Entwicklung.

Dies gilt auch für Rußland und die anderen Länder der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS). Auch sie werden dem Zentrum tributpflichtig werden und ohne Zweifel wird Rußland keinerlei unabhängige Entwicklung einschlagen können. Natürlich wird es einige produzierende Sektoren in Rußland geben, aber ohne jede Chance auf eine ausgeglichene industrielle Entwicklung, da die Prioritäten für jene Entwicklung in wachsendem Maße von Außenstehenden diktiert werden. Wie die Statistiken über ausländische Investitionen belegen, sind westliche Firmen nicht daran interessiert, eine industrielle Entwicklung Rußlands zu fördern.

Das Hauptinteresse des Westens an der GUS ist die Ausbeutung ihrer Rohstoffe. Die Auflösung der Sowjetunion war daher ein wichtiger Schritt hin zur Eröffnung dieser Möglichkeiten der Ausbeutung. Die ehemaligen Republiken der UdSSR wurden sehr viel schwächer, als sie unabhängig wurden. Mehr noch, die westlichen Firmen sind nicht daran interessiert, die Förderung der Rohstoffe der GUS für den lokalen Verbrauch zu unterstützen, sie wollen diese lediglich in den Westen exportieren. Das betrifft insbesondere das Erdöl und Erdgas. Der Hauptanteil des Profits wird damit vor allem im Ausland realisiert werden. Große Teile der ehemaligen Sowjetunion werden sich so sehr rasch in einer Situation wiederfinden, wie sie mit der von Ländern der Dritten Welt vergleichbar ist. (...)

Daher bedeutet die Schaffung eines »integrierten« Europas unter kapitalistischen Bedingungen für Ost-Europa und die Länder der GUS, daß eine ungeheure Umstrukturierung stattfinden wird. Diese wird zwar sehr profitabel für Deutschland und die Vereinigten Staaten sein, jedoch große Teile Europas historisch zurückwerfen.

Der tatsächliche Charakter der Veränderungen hat sich bereits in den Auswirkungen jener »Reformen« gezeigt, die in Rußland von Beginn der 90er Jahre an eingeführt wurden. Es wurde natürlich behauptet, daß diese »Reformen« schließlich wachsenden Wohlstand bringen würden. Das war jedoch von Anfang an nichts anderes als eine leere Versprechung. Die »Reformen«, die auf westliches Drängen hin eingeleitet wurden, waren nicht mehr als die üblichen Restrukturierungspläne, wie sie von der Weltbank und dem IMF Ländern der Dritten Welt aufgezwungen werden. Und die zeigten schnell ihre Auswirkungen.

Die am deutlichsten sichtbarste davon ist der dramatische Fall des Lebensstandards. Ein Drittel der Bevölkerung Rußlands versucht heute, mit einem Einkommen zu überleben, das noch unter der offiziellen Armutsgrenze liegt. Die Produktion ist seit 1991 um mehr als die Hälfte gesunken. Die Inflation hat einen Jahresdurchschnitt von 200 Prozent erreicht. Die Lebenserwartung eines russischen Mannes fiel von durchschnittlich 64.9 Jahren 1987 auf 57,3 Jahre 1994.16 Diese Zahlen ähneln jenen von Ländern wie Ägypten oder Bangladesh. Und es gibt unter den derzeitigen Bedingungen kaum eine Aussicht auf eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation in Rußland. Der Lebensstandard wird eher noch weiter fallen.

All dies hat zu einer weitverbreiteten und gerechtfertigten Wut über den Kollaps des Lebensstandards bereits in den ersten Phasen der Umstrukturierung in Rußland und anderen Ländern geführt. Dies wiederum hat zu wachsenden und heftigen politischen Reaktionen in Rußland und anderen Ländern beigetragen. (...) Es ist ebenfalls klar, daß der anhaltende Fall des Lebensstandards zu weiteren ärgerlichen Reaktionen führen wird.

Daher ist die Ausweitung der alten Weltordnung auf Ost-Europa und die GUS ein bedenkliches Unternehmen, beladen mit Unsicherheiten und Risiken. Die wichtigsten westlichen Mächte bangen darum, daß dieses Unternehmen gelingt, weil sie in gewissem Maße darauf spekulieren, daß dieser Erfolg, der durch die erfolgreiche Ausbeutung dieser Regionen definiert würde, zu einer teilweisen Lösung ihrer schweren ökonomischen Probleme führen könnte. Es gibt derzeit eine wachsende und starke Tendenz in den westlichen Ländern, die eigenen Probleme zu verdrängen, indem sie den derzeit stattfindenden Kampf um die Ausbeutung der neuen Territorien als eine Art von Ausweg aus der weltweiten ökonomischen Stagnation zu sehen.

Westliche Analytiker gehen zu recht davon aus, daß die Zukunft politische Instabilität bringen wird. So hat der amerikanische Senator Bradley kürzlich festgestellt, daß »die Hauptfrage bezüglich Rußland ist, ob die Reformen zurückgenommen werden«. Militärische Analytiker ziehen daraus ihre naheliegenden Schlüsse: je größer die militärische Macht aufgebaut wird, um Rußland in Schach zu halten, desto kleiner ist die Chance, daß die »Reformen« wieder rückgängig gemacht werden können. Dies ist die Bedeutung des nachfolgenden Zitats aus einer wichtigen Stellungnahme der Arbeitsgruppe zur NATO-Erweiterung:

»Der Sicherheitsauftrag der NATO ist nicht mehr darauf beschränkt, eine defensive militärische Haltung gegen eine gegnerische Macht aufrechtzuerhalten. Es gibt keine unmittelbare militärische Bedrohung West-Europas. Die politische Instabilität und Sicherheit Zentral- und Osteuropas hat jedoch einen großen Einfluß auf die Sicherheit des NATO-Gebiets. Die NATO sollte dabei behilflich sein, das zentral- und osteuropäische Streben nach Sicherheit und einer Integration in westliche Strukturen zu erfüllen und auf diese Weise den Stabilitätsinteressen ihrer eigenen Mitglieder zu dienen.«18

Das ist eine völlig neue NATO-Position. Es ist eine Position, die vor nicht zu langer Zeit noch von einigen NATO-Ländern als unklug angesehen wurde. Dies ist alarmierend, da sie nicht den tatsächlichen Gründen für die Druck für eine NATO-Erweiterung begegnet. Wie immer ausweichend und sophistisch die Begründung der Arbeitsgruppe auch sein mag, es scheint so, daß die Debatte in vielen Ländern bereits beendet wurde. Es wäre natürlich besser, wenn man diese Angelegenheiten öffentlich diskutieren könnte, aber derzeit geht das nicht und der Druck hält an, die NATO zu erweitern.

Die Gefahren der NATO-Erweiterung

Der aktuelle Vorschlag, die NATO nach Osten hin zu erweitern, birgt viele Gefahren in sich. Es muß jedoch in diesem Zusammenhang festgehalten werden, daß viele westliche politische Führer bereits mehrfach die Gefahren einer möglichen NATO-Erweiterung ausgesprochen haben. Es ist auch wichtig, festgehalten zu werden, daß es trotz der offiziellen NATO-Position und dem jüngsten Papier der NATO-Arbeitsgruppe immer noch eine starke Opposition gegen ihre Erweiterung nach Osten hin gibt. Nichtsdestotrotz haben jene, die die NATO-Erweiterung befürworten, derzeit Oberwasser.

Es gibt vier Gefahren einer NATO-Erweiterung, und diese sollen hier diskutiert werden.

Die erste liegt darin, daß die NATO-Erweiterung mit sich bringen wird, daß neue Mitglieder unter den Schirm der NATO gestellt werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, daß die Vereinigten Staaten und andere westliche Mitglieder gezwungen sein könnten, die Slovakei - um einmal ein Beispiel herauszugreifen - gegen einen Angriff zu verteidigen. Woher könnte so ein Angriff kommen? Ist die NATO wirklich darauf vorbereitet, die Slovakei im Konfliktfall mit einem anderen osteuropäischen Land zu verteidigen?

In einem Land wie den Vereinigten Staaten wäre dies sehr unpopulär. So betonte US-Senator Kassebaum im Oktober 1994:

»Sind die Amerikaner wirklich bereit, sich dafür zu verbürgen, daß - um in den Worten der NATO zu sprechen - ein bewaffneter Angriff gegen eines oder mehr dieser potentiell neu hinzukommenden Ländern als ein Angriff auf alle Mitgliedsländer angesehen wird?«19

Die Frage der Erweiterung dieses Schirms ist eine äußerst kritische, da die NATO-Mächte auch Atommächte sind. Der Bericht der NATO-Arbeitsgruppe hielt ebenfalls fest, daß es unter gewissen Umständen nötig werden könnte, Militärkontingente der NATO-Verbündeten auf dem Territorium dieser neuen Mitglieder zu stationieren.20 Und die Arbeitsgruppe hat auch nicht ausgeschlossen, wie sie es getan haben müßte, daß Atomwaffen ebenfalls dort stationiert werden könnten. Die Tatsache, daß eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen wurde, bedeutet, daß sich die NATO auf einen gefährlichen Weg begeben hat, der die Gefahr eines Atomkrieges vergrößert.

Das Schweigen der NATO zu diesem Punkt kann doch nicht anders als Bedrohung von jenen Ländern aufgefaßt werden, die nicht der NATO beitreten. Und ganz klar ist Rußland das wichtigste von ihnen, da es ebenfalls - wie die Ukraine und Kazakhstan - Atomwaffen besitzt.

Die zweite Gefahr liegt darin, daß die NATO-Expansion die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland beeinträchtigen würde, was sogar zu einer Neuauflage des Kalten Krieges führen könnte. Während die NATO-Mitglieder ihre Organisation als eine defensive Allianz darstellen, sieht Rußland dies ganz anders. Mehr als 40 Jahre lang ist die Sowjetunion davon ausgegangen, daß die NATO ein offensives Bündnis gegen alle Mitglieder des Warschauer Vertrages ist. Die vorherrschende Meinung in Rußland ist ebenfalls, daß die NATO eine offensive Organisation ist. Der ehemalige russische Außenminister Kozyrev hat dies den NATO-Mitgliedern auch sehr deutlich zu verstehen gegeben. Wie könnten die Dinge von Rußland nun auf einmal ganz anders gesehen werden?

Die NATO-Erweiterung wird von Rußland mit Sicherheit als Einkreisung verstanden werden. Es wird dann so aussehen, als ob angenommen würde, Rußland sei zu einem aggressiven Staat geworden. Das kann doch zu nichts anderem führen, als Rußland in eine noch stärkere Gegnerschaft zu treiben. Es wird mit Sicherheit nicht dazu beitragen, seine Ängste bezüglich der Intentionen hinter der NATO-Osterweiterung zu besänftigen. Indem er sich auf die kürzliche Entscheidung bezog, die NATO zu erweitern, bezog, führte der Direktor des Instituts für USA und Kanada Studien an der Akademie der Wissenschaften Rußlands aus:

»Rußland ist immer noch eine militärische Supermacht mit einem großen Gebiet und einer großen Bevölkerung. Es ist ein Land mit enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die ein außerordentliches Potential für das Gute und Böse beinhalten. Heute ist es ein verwundetes Land auf der Suche nach einer Identität und Orientierung. In einen gewissen Maße wird der Westen und seine Position hinsichtlich einer NATO-Erweiterung den Weg vorgeben, den Rußland wählen wird. Die Zukunft der europäischen Sicherheit liegt in dieser Entscheidung.«21

Die dritte Gefahr einer NATO-Erweiterung besteht darin, daß sie die Implementierung des START I-, die Ratifizierung des START II-Vertrages sowie anderer Waffenkontroll- und Begrenzungsverträge unterminieren wird, die dazu ausersehen sind, die Sicherheit in Europa zu erhöhen. So haben die Russen z.B. bereits erklärt, daß sie mit der Erfüllung des Vertrages über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte erst dann fortfahren werden, wenn »die Situation in Europa stabil« ist. Die NATO-Erweiterung nach Ost-Europa verändert jedoch dramatisch das derzeitige Gleichgewicht in Europa. Auf diese Weise gefährdet die NATO alle Erfolge, die im Laufe der vergangenen 25 Jahren in Richtung Abrüstung erreicht worden sind. Einige argumentieren zudem sehr überzeugend, daß die NATO sogar die Verbreitung des Atomwaffensperrvertrages unterminieren wird. Diese Konsequenzen werden aus Europa und der gesamten Welt kaum einen sichereren Platz machen.

Die vierte Hauptgefahr in der NATO-Erweiterung liegt darin, daß sie die Situation in Europa unsicherer machen wird. Die NATO behauptet, daß ihre Erweiterung die Sicherheit stabilisieren würde, doch Ost-Europa ist bereits - besonders nach den Veränderungen der letzten 5 Jahre - ein unsicherer Platz. Die schrittweise Erweiterung der NATO in Richtung Osten wird die Spannung zwischen den neuen Mitgliedern und jenen, die noch »draußen vor der Tür« warten müssen, verschärfen. Das kann auch nicht anders sein. Diejenigen, die noch nicht in die NATO eingebunden sein werden, müssen sich durch die Tatsache, daß die NATO bis in ihre Nachbarschaft vorgedrungen ist, verunsichert fühlen. Das würde sie nämlich in eine Art Pufferzone zwischen der sich ausweitenden NATO und Rußland stellen. Sie sind damit faktisch gezwungen, ängstlich und sogar feindlich zu reagieren, was dazu führen kann, daß die schrittweise Erweiterung der NATO zu einer Aufrüstungsspirale in Ost-Europa führen könnte.

Die Schwäche der westlichen Position

Wenn man es einmal näher betrachtet, so ist der Vorschlag, die NATO zu erweitern, nicht nur gefährlich, er scheint auch zugleich ein verzweifelter Akt zu sein. Er ist offensichtlich irrational und könnte zu einer sich selbst erfüllenden Prophetie werden. Die NATO-Erweiterung könnte zu einem neuen Kalten Krieg zwischen den NATO-Mächten und Rußland führen und vielleicht sogar zu einem Atomkrieg. Man muß doch eigentlich annehmen, daß niemand das im Sinn hat.

Aber warum schlagen die NATO-Länder dann doch so einen Weg ein? Warum könnten sie unfähig sein, die Gefahren einer solchen Entscheidung objektiv abzuwägen?

Ein Teil der Antwort liegt darin, daß jene, die diese Entscheidung sehr kurzsichtig getroffen haben, nicht den größeren Zusammenhang gesehen haben, in dem eine NATO-Erweiterung ablaufen würde. Wenn man sich nämlich diesen größeren Zusammenhang anschaut, dann ist der Beschluß zur NATO-Erweiterung irrational.

Schauen wir uns einmal diesen größeren Zusammenhang an. Die NATO schlägt vor, einige Länder Zentral-Europas als volle Mitglieder aufzunehmen, andere werden als Kandidaten für eine fernere Zukunft angesehen. Diese Erweiterung hat zwei mögliche Gründe. Der eine ist, ein »Scheitern der Demokratie in Rußland« zu verhindern, was bedeutet, den Machterhalt des derzeitigen Regimes (Jelzin, d. Übers.) zu sichern. Der andere ist, die NATO in eine vorteilhafte Position zu versetzen, falls ein Krieg zwischen Rußland und dem Westen ausbrechen sollte.

In der Atomwaffen-Ära ist die Verfolgung des zweiten Grundes noch gefährlicher als zur Zeit des Kalten Krieges, weil heute verschiedene Länder über Atomwaffen verfügen, die potentiell gegen die NATO eingestellt sein könnten. Das Argument, daß die NATO nach Osten hin erweitert werden müßte, um einen Vorteil im Fall des Ausbruchs eines Atomkrieges zu haben, ist kein überzeugendes. Und dies würde mit Sicherheit auch nicht für die Länder Zentral-Europas überzeugender, wenn dies öffentlich formuliert würde. Ihre Situation wäre ähnlich der von Deutschland während des Kalten Krieges, wie die deutsche Anti-Kriegsbewegung in den 80er Jahren zu verstehen begann.

Der Hauptgrund für die NATO-Erweiterung ist, wie jeder anerkannt hat, abzusichern, daß es keine Rücknahme der Veränderungen geben wird, die sich in Rußland in den letzten fünf Jahren vollzogen haben. Das würde nämlich das Ende von einen dreigeteilten Europa unter kapitalistischem Banner bedeuten und einen großen Raum für Operationen des westlichen Kapitals schließen. Eine NATO-Präsenz in Zentral- und Ost-Europa ist ganz einfach ein Mittel, um neuen Druck auf jene auszuüben, die versuchen, die derzeitige Situation in Rußland zu verändern.

Das bedeutet jedoch, wie wir gesehen haben, Rußland und andere Länder der GUS in einem Stadium der Unterentwicklung und der anhaltenden ökonomischen und sozialen Krise einzuschließen, in der Millionen von Menschen leiden werden, und in der es keine Möglichkeit für die Gesellschaft gibt, einen Weg der ökonomischen und sozialen Entwicklung einzuschlagen, in dem die menschlichen Bedürfnisse die ökonomischen Prioritäten bestimmen.

Die schreckliche Ironie ist, daß der Westen sein Wirtschaftsmodell als Lösung für Rußlands Probleme anbietet. Ein realistischer Analytiker wird jedoch wissen, daß dies nicht der Realität entspricht. Der Westen ist lediglich daran interessiert, seine Vorherrschaft weiter nach Osten zu treiben. Und der bietet seine Erfahrung als Model für andere nur an, um diese damit zu betrügen, aber die Idee von der »Transformation zur Demokratie« - wie die Installierung von marktwirtschaftlichen Gesetzen oft genannt wird - ist wichtig im Kampf um die öffentliche Meinung. Sie ist behilflich dabei, politische Strategien zu rechtfertigen und aufrecht zu er erhalten, die der Westen in den Ländern der GUS verfolgt.

Der Westen ist jedoch selbst in einer nicht zu handhabenden Wirtschaftskrise eingeschlossen. Seit den frühen 70er Jahren begannen die Profite zu sinken, die Produktion zurückzugehen und eine lang anhaltende Arbeitslosigkeit stieg ständig, der Lebensstandard sank. Es gab natürlich die üblichen Höhen und Tiefen des Wirtschaftszyklus, was jedoch wichtig ist, daß ist der Trend. Der Trend des Wachstums des Bruttosozialproduktes in den wichtigsten westlichen Ländern verringerte sich seit der großen Rezession von 1973 bis 1975. Die Wachstumsrate der Vereinigten Staaten fiel zum Beispiel von ungefähr jährlichen 4 Prozent in den 50er und 60er Jahren auf 2,9 Prozent in den 70er und ungefähr 2,4 Prozent in den 80er Jahren. Heutige Wirtschaftsprognosen sprechen von einer noch schwächeren Wachstumsrate.

Die Situation in anderen westlichen Ländern ist nicht viel anders. Die Wachstumsrate ist etwas besser, aber dafür ist auch die Arbeitslosigkeit deutlich höher. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote in West-Europa bei ungefähr 11 Prozent, wobei sehr viel der Arbeitslosigkeit in den Statistiken als Resultat von Pseudo-Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierungen versteckt wird.

West-Europa wie Nord-Amerika erleben gleichermaßen eine anhaltende wirtschaftliche Stagnation. Die kapitalistischen Länder sind jedoch nicht in der Lage, Arbeitsplätze und den Lebensstandard ohne ein relativ schnelles Wirtschaftswachstum zu halten. (...)

Der Westen steckt selbst in einer Krise. Dies ist nicht eine vorübergehende Krise oder ein »langer Zyklus«, wie akademische Apologeten es gerne hätten. Es ist eine Krise des Systems. (...)

Die Verantwortlichen in Regierungen und Wirtschaft machen blind weiter, sie wollen nicht sehen und sind nicht darauf vorbereitet, politische Strategien zu akzeptieren, die das derzeitige System in Richtung einer mehr rationellen und menschlicheren Organisierung des wirtschaftlichen Lebens verändern. Es ist diese Blindheit, die in Verwirrung und Angst verankert ist, die den politischen Führungspersönlichkeiten des Westens die Sicht auf die Risiken der NATO-Erweiterung Richtung Ost-Europa vernebelt hat. Das westliche System macht eine grundlegende wirtschaftliche, soziale und politische Krise durch und die führenden westlichen Politiker sehen scheinbar in der Ausbeutung des Ostens das einzig mögliche umfassende Projekt, um wieder Wachstum - besonders in West-Europa - erreichen zu können.

Sie sind daher bereit, ein großes Risiko einzugehen. Die Frage ist: wird die Welt die Risiken eines Ost-West-Konfliktes und möglichen Atomkrieges akzeptieren, nur um in einer Region ein wirtschaftliches System durchzusetzen, das anderswo bereits im Kollaps begriffen ist?

Der (inzwischen leider verstorbene) US-amerikanische Soziologe und Politologe Sean Gervasi lehrte u.a. am »Institut für Internationale Politik und »Ökonomie« in Belgrad (Jugoslawien). In der Vergangenheit war er bereits in unterschiedlichen Funktionen als Berater verschiedener Regierungen der sogenannten Dritten Welt tätig und schrieb u.a. für das in den USA erscheinende Magazin »CovertAction Information Bulletin/CovertAction Quarterly«. Dieses - von uns übersetzte und nur leicht gekürzte - Referat hielt er auf der Tagung der »Internationalen Nino Pasti Stiftung« (Italien), die zur Thematik »NATO-Erweiterung in Ost-Europa und dem Mittelmeer« vom 12. bis 14. Januar 1996 in Prag (Tschechische Republik) stattfand.

Anmerkungen:
(1) »Defense News«, 25.11.95; siehe ebenfalls: Gary Wilson »Anti-War Activists Demand: No More U.S. Troops to the Balkans«, Workers World News Service, 2.12.1995
(2) siehe z.B.: »NATO Expasnion: Flirting with Disaster«, The Defense Monitor, November/Dezember 1995, Center for Defense Information, Washington, D.C.
(3) Senator Richard Lugar, »NATO: Out of Area or Out of Business«, Anmerkungen bei einem öffentlichen Treffen des U.S.-Außenministeriums, 2.10.1993, Washingron, D.C.
(4) »Changing Nature of NATO«, Intelligence Digest, 16.10.1992
(5) The Defense Monitor, November/Dezember 1995, Seite 2
(6) »Bonn's Balkans-to-Teheran-Policy«, Intelligence Digest, 11-25 August 1995
(7) Richard Holbrooke, »America, A Europaean Power«, Foreign Affairs, März/April 1995, Seite 39
(8) Der entscheidende Punkt ist, daß die osteuropäischen Länder und die Staaten der ehemaligen UdSSR Institutionen anzunehmen haben, wie sie im Westen vorherrschend sind, das bedeutet den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie
(9) Holbrooke, ibid., Seite 43
(10) siehe: National Security Decision Directive, »United States Policy toward Yugoslavia«, Secret Sensitive (deklassifiziert), The White House, Washington, D.C., 14.3.1984
(11) Joan Hoey, »The U.S. ,Great Game' in Bosnia«, The Nation, 30.1.1995
(12) Jacob Heilbrunn und Michael Lind, »The Third American Empire«, The New York Times, 2.1.1996
(13) »The Commercial Factor Behind NATO's Extended Remit«, Intelligence Digest, 29. Mai 1992
(14) ebenda
(15) Senator Bill Bradley, »Eurasia Letter: A Misguided Russia Policy«, Foreign Policy, Winter 1995/1996, Seite 89
(16) ebenda, Seite 93
(17) Entwurf eines Sonderberichts der NATO-Arbeitsgruppe zur NATO-Erweiterung, Mai 1995
(18) zitiert nach: Defense Minitor, ibid., Seite 5
(19) Dr. Sergej Rogov, Direktor der »Russischen Akademie des Wissenschaftlichen Institutes für USA und Kanada-Studien«, zitiert nach: Defense Monitor, ibid., Seite 4

Sean Gervasi (USA)


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