Logo Geheim 2/1999

»Aufbruch und Erneuerung« für die Bürgerrechte?
Rot-grüne Modernisierung statt Ausstieg aus dem autoritären Sicherheitsstaat

Rolf Gössner, Verfasser des von acht Bürgerrechtsorganisationen der Bundesrepublik herausgegebenen Memorandums in Sachen Menschen- und Bürgerrechte: »Umsteuern in der Politik der ,Inneren Sicherheit'«1 (siehe GEHEIM 4/98, S. 6-10), hatte in seiner Polemik »Schily con Kanther« (a.a.O., S. 5f) schon die Befürchtung geäußert, daß vor dem Hintergrund der Koalitionsvereinbarung2 von SPD und GRÜNEN von dieser Regierung in der Innenpolitik »weiterhin nicht unbedingt Gutes zu erwarten sei«. - Im letzten Heft kritisierte er unter der Überschrift »Kontrollverbesserungen statt Einstieg in die geheimdienstfreie Gesellschaft« die damals bevorstehende und inzwischen vollzogene Neuregelung der parlamentarischen Geheimdienstkontrolle (GEHEIM 1/99, S. 5f) und unter der Überschrift »Staatliche geprüfte Neubürger« (a.a.O., S. 8ff) die Aspekte staatlichen Sicherheitsdenkens im neuen Staatsbürgerschaftsrecht.

Zur Vervollständigung dieser wie das Memorandum umfassend angelegten Analyse der Innen- und Rechtspolitik der Schröder-Regierung drucken wir im folgenden die Teile III und IV seines zusammenfassenden Aufsatzes: »Aufbruch und Erneuerung« für die Bürgerrechte? Rot-grüne Modernisierung statt Ausstieg aus dem autoritären Sicherheitsstaat, für die »Neue Kriminalpolitik« (Nomos-Verlag Baden-Baden) 2/1999 (Mai). Die Redaktion

III. Humane Flüchtlings- und Asylpolitik?

Wie sieht es in den anderen Teilen des rot-grünen Koalitionsvertrages aus, wo es um Bürgerrechte und »Innere Sicherheit« geht? Wie steht es etwa um eine humane Flüchtlings- und Asylpolitik? Fehlanzeige. Obwohl es gerade für das Asylrecht enormen Handlungsbedarf gibt, damit die zuständigen Stellen endlich zu einem menschlicheren Umgang mit Asylsuchenden finden, wird sich hier praktisch nichts verändern. Kein Wunder eigentlich, hatte doch die SPD bereits in ihrer Oppositionszeit tatkräftig an der Demontage des Asylgrundrechts mitgewirkt. Angesichts der fatalen Folgen dieser Demontage klingt es eher zynisch, lediglich die lange Dauer der prinzipiell inhumanen Abschiebehaft und des umstrittenen Flughafenverfahrens »im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes« überprüfen zu wollen. Wie eine solche Überprüfung ausfällt und was dabei herauskommt, das läßt der Besuch des Bundesinnenministers in der Flüchtlingsunterkunft des Flughafens Frankfurt/M. erahnen: Danach will Schily weiterhin an dem fragwürdigen Schnellverfahren festhalten, lobt den Bundesgrenzschutz für sein »sensibles Vorgehen« im Umgang mit den Flüchtlingen und kritisiert lediglich die Unterkunft in dem Transitgebäude C 183 als »nicht ideal«. Die Flüchtlingsunterkunft wird nach und nach mit Metallzäunen, Stacheldraht und Bewegungsmeldern zu einer Art »Hochsicherheitstrakt« ausgebaut, um die asylsuchenden Flüchtlinge an der Flucht in die Freiheit zu hindern. Die grüne Ausländerbeauftragte Marieluise Beck nennt nach ihrem Besuch die sozialen und sanitären Standards der Unterkunft »katastrophal«, mahnt eine zusätzliche Einrichtung an, will aber mit Rücksicht auf die Koalitionsvereinbarung am Flughafenverfahren selbst nicht rütteln. Auch eine einmalige »Altfallregelung« für Flüchtlinge, die von Rot-grün zusammen mit den Ländern angestrebt werden soll, oder die künftige Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe bei der Asylgewährung können an der asyl- und ausländerrechtlichen Misere nicht viel ändern - so wichtig solche Vorhaben im einzelnen auch sind.

IV. Rot-grüne Kriminalpolitik - ein Modernisierungsprojekt

Wie steht es künftig unter Rot-grün um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik? Welche Lehren zieht die neue Bundesregierung aus der Erkenntnis, daß die permanente innere Nachrüstung, der stete Abbau von Bürgerrechten, die geradezu hilflos erscheinende Einfallslosigkeit des »more of the same« im Bereich der »Inneren Sicherheit« längst kläglich gescheitert sind. Wie steht es nach dem Regierungswechsel um sozial- und bürgerrechtsverträgliche Lösungsansätze?

»Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen«, so lautet die rot-grüne »Leitlinie« im Koalitionsvertrag. Das heißt wohl im Klartext: Der bisherigen polizei- und strafrechtsdominierten Kriminalpolitik wird keine Absage erteilt. Tatsächlich wird weiterhin in hohem Maße auf Repression gesetzt - nun auch, so wenigstens die Koalitionsvereinbarung, verstärkt gegen Wirtschafts- und Umweltkriminalität sowie gegen Korruption und illegale Beschäftigung; auch neue Repressionsinstrumente werden in diesem Zusammenhang angekündigt (u.a. verbesserte Abschöpfung von Vermögensvorteilen aus Straftaten).

Wende in der Drogenpolitik?

Selbst die Drogenpolitik wird im Kern repressiv bleiben. Zwar weisen die rot-grünen Feststellungen »Sucht ist Krankheit« und »Hilfe statt Strafe« einen richtigen Weg: nämlich die Behandlung der Drogenproblematik tendenziell aus dem strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen zu verlagern. Konsequenterweise wurde die grüne Drogenbeauftragte Christa Nickels nicht im Innenressort, sondern im Gesundheitsministerium angesiedelt. Ihr erster Drogen- und Suchtbericht vom 01. März 1999 hebt sich in Tonlage und Sozialkompetenz entsprechend positiv vom Polizeijargon ihres Vorgängers Eduard Lintner (CSU) ab, dessen sture Repressionspolitik im Jahr 1998 für die hohe Zahl von 1.674 Drogentoten mitverantwortlich zeichnen dürfte. Damit war die Zahl der Todesfälle um fast 12 Prozent gestiegen.

Angesichts solcher Resultate einer gescheiterten Prohibitionspolitik sollte zu einer wirksamen Umorientierung in der Drogenpolitik mehr gehören, als nur »Modellen« zur Einrichtung von »Fixerstuben« eine Rechtsgrundlage zu verpassen oder »Modellversuche« zur ärztlich kontrollierten Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige mit wissenschaftlicher Begleitung zu legalisieren oder Rechtssicherheit für staatlich anerkannte Drogenhilfestellen zu gewährleisten. Diese geplanten Reformschritte in die richtige Richtung werden sich rasch als Halbheiten erweisen: Denn zum einen liegen längst genügend Erfahrungen
- etwa aus der Schweiz oder den Niederlanden - vor, die weitere »Modellversuche« eigentlich entbehrlich machen; zum anderen werden wenige (legalisierte) Modelle und Modellversuche weder dem Beschaffungsdruck und der Beschaffungskriminalität genügend entgegenwirken, noch werden sie in der Lage sein, dem illegalen Drogenhandel in der Bundesrepublik wenigstens ansatzweise die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Dazu bedürfte es einer allgemeinen Liberalisierung, einer differenzierten Entkriminalisierung des gesamten Drogenbereichs, also auch der Freigabe weicher Drogen - denn auch diese Rauschmittel gehören zum Drogenmarkt, die aus der Illegalität herausgeschält werden müssen. Doch davon steht kein Wort im Koalitionsvertrag. Gleichwohl haben Andrea Fischer, die grüne Bundesgesundheitsministerin, und Otto Schily zugesagt, die Freigabe von weichen Drogen wenigstens zu »prüfen«.

Rot-grüne Doppelstrategie

»Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen« - bedeutet das auch, daß letztlich bruchlos auf die repressive Kriminalpolitik im Geiste Kanthers und seiner Vorgänger aufgebaut werden soll? Kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument, wie etwa die »Anti-Terror«-Gesetze, der Große Lauschangriff, die »Schleierfahndung«, wird revidiert oder wenigstens gestutzt. Andererseits soll diese (vor-) herrschende Sicherheitspolitik noch ergänzt werden um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik, wie sie vor allem von den Grünen gefordert wird. »Strafrecht«, so wird richtig erkannt, »kann Ursachen von Kriminalität nicht beseitigen«; deshalb seien eine »gute Beschäftigungs- und Sozialpolitik wie auch eine an humanen Werten orientierte Gesellschaftspolitik unabdingbar«, heißt es im Koalitionsvertrag.

Das ist schön gesagt, doch was bedeutet dieses Sowohl-als-auch, das in jenem Schlüsselsatz »Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen« enthalten ist? Es bedeutet die rot-grüne Kombination unterschiedlicher kriminalpolitischer Ansätze: Nicht mehr einseitig auf Repression setzen, sondern das gesamte Spektrum zwischen Repression, Prävention und Ursachenbekämpfung voll und differenziert ausschöpfen. Das bedeutet auch, daß etwa die erweiterten (geheim-)polizeilichen Eingriffsbefugnisse weit im Vorfeld von strafbaren Handlungen (»vorbeugende Verbrechensbekämpfung«) kritiklos übernommen werden - und damit auch jene schwer zu kontrollierende »Geheim-Polizei«, die sich mittlerweile in der Bundesrepublik herausgebildet hat.

Schon seit geraumer Zeit besinnen sich reformerische Kräfte innerhalb und außerhalb der Sicherheitsapparate auf neue Rezepte und Konzeptionen, um der Endlosspirale der konservativen Einfallslosigkeit zu entgehen, deren Resultate zum Teil als kontraproduktiv, bürgerrechtsverletzend und zunehmend unbezahlbar erkannt wird. Gesucht werden neue Formen der Sicherheitswahrung, neue Akteure, neue strategische Konzepte, neue Kooperationen; angestrebt werden mehr Regionalisierung, vermehrte Polizeistreifen vor Ort, bürgernahe Polizeiarbeit und Bürgerbeteiligung. Das - so die Hoffnungen - könne die Akzeptanz bei der Bevölkerung erhöhen, ihr Sicherheitsgefühl pflegen und Geld sparen. Eine grundlegende Reform, Entbürokratisierung und Demokratisierung des Polizeiapparates ist damit jedoch nicht verbunden. Vielmehr muß diese Art von bürgerorientierter Kriminalprävention als eine Ergänzung und »Gegenstrategie« gegen die bisherige Polizeientwicklung begriffen werden - eine Entwicklung, die von Entkommunalisierung, Zentralisierung, Spezialisierung, Vergeheimpolizeilichung und »Aufrüstung« gekennzeichnet ist. Dieser in manchen Bundesländern bereits eingeschlagenen »kriminalpräventiven Gegenstrategie« scheint auch die rot-grüne Bundesregierung folgen zu wollen, ohne allerdings das gewachsene Repressionspotential zu dezimieren: Rot-grüne Doppelstrategie.

Insbesondere der Passus im Koalitionsvertrag, daß sowohl die »Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften« zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (von der SPD favorisiert) als auch »kriminalpräventive Räte« (von den Grünen favorisiert) nachhaltig unterstützt werden sollen, deutet in Richtung jenes »ganzheitlichen« kriminalpolitischen Ansatzes, der nichts ausläßt - weder bürgerrechtsverträgliche Projekte noch die prekärsten »kriminalpräventiven Instrumente«. Alles deutet darauf hin, daß die SPD-Seite unter »Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften« ein »Fortknüpfen« der umstrittenen Kantherschen »Sicherheitsnetze« unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes (BGS)5 versteht - »Sicherheitsnetze«, unter denen schon heute ein bedrückendes Klima präventiver Intoleranz herrscht, ein Klima von sozialer »Säuberung«, Ausgrenzung und Verdrängung sozialer Randgruppen aus städtischen Konsummeilen. Dazu paßt, daß sich der Koalitionsvertrag zu der vor kurzem erfolgten Kompetenzausweitung des BGS vollkommen ausschweigt, obwohl es starke verfassungsrechtliche Bedenken gibt - sowohl gegen den Ausbau des BGS zu einer zentralen Bundespolizei, als auch gegen den Einsatz von BGS-Kräften bei der Bekämpfung von Alltagskriminalität in den Städten.

Die geplante nachhaltige Unterstützung von kriminalpräventiven Räten dürfte hingegen - zur Besänftigung des grünen Partners - eher deklaratorische Bedeutung haben, denn solche Räte sind auf kommunaler sowie auf Landesebene angesiedelt. Ob vergleichbares auf Bundesebene - etwa mit dem geplanten »Deutschen Forum für Kriminalprävention« - realisiert wird, ist bislang nicht ersichtlich. Im übrigen bleibt vollkommen offen, welche Art von Präventionsräten unterstützt werden soll, die wie Pilze aus dem Boden schießen und recht unterschiedlichen Konzeptionen folgen. Welche Kriterien sollen sie erfüllen hinsichtlich ihrer Zusammensetzung mit Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten? Hinsichtlich einer Beteiligung der Polizei, die als organisierte »Staatsmacht« die Arbeit in den Räten leicht dominieren kann? Oder hinsichtlich der Einbeziehung handfester Geschäftsinteressen, die sich auf diese Weise mit einer zusätzlichen Legitimation für »saubere« Innenstädte versorgen könnten?

V. Flexibilisierung des Sanktionensystems: Phantasievolle »Übelzufügung«

In die rot-grüne Kriminalpolitik ist mittlerweile - weit über die Festlegungen der Koalitionsvereinbarungen hinaus - Bewegung gekommen. Dabei beziehen sich die Reformvorschläge der zuständigen Regierungsmitglieder auf zwei Sätze im Koalitionsvertrag: Der eine proklamiert, die »Alltagskriminalität konsequent, aber bürokratiearm (zu) bestrafen und Wiedergutmachung für die Opfer (zu) fördern«. Der andere kündigt eine »Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems und die Schaffung zeitgemäßer Sanktionsformen (z.B. gemeinnützige Arbeit)« an. Um dies zu erreichen, soll das Sanktionensystem verändert, erweitert, flexibilisiert werden: Gegen gemeinnützige Arbeit als Alternative zu Geld- und (Ersatz-)Freiheitsstrafe dürfte in aller Regel nur wenig einzuwenden sein; die Verhängung dieser Sanktion ist heute schon möglich und könnte - vor allem zur Haftvermeidung - breitere Anwendung finden. Doch Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) reicht das nicht aus:6 Sie fordert, künftig geringfügigere Straftaten mit Fahrverbot als selbständiger Hauptstrafe zu ahnden - auch wenn diese Straftaten keinerlei Bezug zum Straßenverkehr oder zu einem Fahrzeug aufweisen. Diese Forderung, die man im Koalitionsvertrag vergeblich sucht, ist zwar relativ populär, aber höchst umstritten. Auch Urlaubssperren oder Reiseverbote zur Vermeidung von Geldstrafen waren schon im Gespräch... Der grüne Regierungspartner hält von solchen Flexibilisierungen nicht viel: Er hält (bislang) daran fest, daß ein Fahrverbot nur in solchen Fällen verhängt werden soll, in denen es sich um Straftaten mit einem irgendwie gearteten Bezug zum Straßenverkehr bzw. zu Kraftfahrzeugen handelt.

Doch Justizministerin und Innenminister gingen in ihren gemeinsamen Überlegungen noch einen Schritt weiter: Zur Ahndung von Bagatell- und Massendelikten, wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder einfacher Sachbeschädigung, soll nach ihrer Auffassung künftig anstelle der Justiz die Polizei eigenständig Strafgelder verhängen dürfen. Es soll sich um eine echte Kriminalstrafe handeln, die auch justitiell überprüft werden kann. Diese Reform, so die Intention, soll die Justiz entlasten und das Strafsystem entbürokratisieren. Hiergegen gibt es erhebliche Bedenken: Denn mit Polizisten als »Ersatzrichtern« und Strafvollstreckern in Personalunion würde die faktische »Allzuständigkeit« der Polizei noch weiter vorangetrieben - ebenso wie die bereits weit fortgeschrittene Verpolizeilichung der Strafprozeßordnung. Die Entlastung der Justiz würde mit einer Überforderung der ohnehin überlasteten Polizei teuer erkauft. Darüber hinaus würde eine solche Regelung die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative in verfassungswidriger Weise durchbrechen. Wenn man schon Bagatelltaten »bürokratiearm« ahnden will, wie es im Koalitionsvertrag steht, dann soll man sich doch gleich dazu durchringen, solche Massendelikte nicht nur zum Schein zu »entkriminalisieren«, sondern sie auch tatsächlich als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln.

VI. Modernisierung und Effektivierung des etablierten Sicherheitsstaates

Die Koalitionsvereinbarung scheint derartigen Phantasien, wie sie von Schily & Co. seither produziert werden, offenbar keine engen Schranken zu setzen - zuletzt kam der Vorschlag, Freiheitsstrafen in bestimmten Fällen nicht mehr im (ohnehin überfüllten) Knast, sondern per Hausarrest mit elektronischen Fußfesseln zu vollstrecken - und damit praktisch zu privatisieren bzw. dem sozialen Umfeld aufzubürden. Hier rächt sich, daß den rot-grünen Koalitionären in Sachen Menschen- und Bürgerrechte rundweg kein Durchbruch gelungen ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Zu denen gehört jedoch nicht die Kriminalpolitik, mal abgesehen vom »Schutz der Schwachen durch Recht«, der verbessert werden soll (Opfer-Entschädigung, Täter-Opfer-Ausgleich, Antidiskriminierungsgesetz).

Das festzustellende Manko ist weder mit solchen Aktivposten noch mit der überfälligen Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts aufzuwiegen, auch wenn der permanente Hinweis auf dieses »revolutionäre« Reformprojekt - das inzwischen schwer »gerupft« worden ist - offenbar genau dies bezwecken sollte. Diese überfällige Reform ist teuer erkauft mit dem Verzicht auf die Wiederinkraftsetzung des Asylgrundrechts, auf ein humanes Asyl- und Ausländerrecht; sie ist teuer erkauft mit dem Verzicht auf eine demokratische Polizeireform, auf eine liberalere Kriminalpolitik, auf eine Reduzierung und Entschleierung der Geheimdienste - letztlich mit dem Verzicht auf ein wirkliches Umsteuern in der gesamten Politik der »Inneren Sicherheit«.

Vieles deutet also schon in den ersten Regierungsmonaten darauf hin, daß die rot-grüne Koalition ein großes Projekt der Modernisierung und Effektivierung des etablierten Sicherheitsstaates betreibt. Projektziel: die Verschlankung, Entschlackung, Beschleunigung und Flexibilisierung seiner Strukturen und Arbeitsweisen (u.a. mit der geplanten Verwaltungs- und Justizreform) - statt eines fälligen Ausstiegs aus dieser Art von Sicherheitsstaat, wie er in den vergangenen Jahrzehnten zu Lasten der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien ausgebaut worden ist. Es scheint wiederum der alten Sozialdemokratie - ähnlich wie schon in den sozialliberalen 70er Jahren - die Rolle zuzufallen, den Staat nach jahrelangem Reformstau, nach Krisen und Agonie unter rechtsliberaler Regentschaft, einem Modernisierungsprozeß zu unterziehen - diesmal mit den Grünen als Juniorpartner. Eine solche Modernisierung, mit all ihren prekären Begleiterscheinungen und Verwerfungen, ist traditionellerweise nicht Sache der Konservativen in diesem Lande. Ihnen würde vermutlich die außerparlamentarische Opposition auch wesentlich heftiger entgegenschlagen, als einer - vermeintlich oder tatsächlich - »fortschrittlichen« Regierung unter Führung der Sozialdemokratie. Und dieses Mal bringen die Bündnisgrünen noch ein zusätzliches Integrations- und Befriedungspotential in dieses Modernisierungprojekt ein - wenn sich nicht ein Großteil der grünen Mitglieder und WählerInnen im Laufe des rasanten Anpassungsprozesses ihrer Partei mit Grausen abwendet. Die Bündnisgrünen könnten zu den künftigen Modernisierungsverlierern gehören, wenn es ihnen nicht gelingt, diesen Modernisierungsprozeß spürbar entlang bürgerrechtlicher (und ökologischer) Leitlinien mitzuprägen.

Trotz bislang recht unerfreulicher Aussichten für den Politikbereich Bürgerrechte und »Innere Sicherheit« wäre es jedoch falsch, den rot-grünen Koalitionsvertrag und die hierauf basierende Politik vorschnell zu verwerfen. Sie haben es - auch wegen der anderen Politikfelder - verdient, in all ihren Facetten einer nüchternen, differenzierten und kritischen Analyse und Beurteilung unterzogen zu werden. Denn dieser Regierungswechsel trägt für viele immer noch den Hoffnungsschimmer in sich, daß den in Jahren und Jahrzehnten systematisch malträtierten Grund- und Bürgerrechten in diesem Land wieder die Geltung verschafft werde, die ihnen nach dem Anspruch einer freiheitlichen, demokratisch verfaßten Gesellschaft und eines liberalen, demokratischen Rechtsstaates zukommt. »Der Erfolg des rot-grünen Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück menschlicher, demokratischer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein werden«, schrieben die acht Bürgerrechtsorganisationen in ihrem Memorandum vom Oktober 1998. Wird die rot-grüne Innenpolitik diesem Anspruch wenigstens in Ansätzen gerecht werden? Die Legislaturperiode hat erst begonnen.

1 Das Memorandum »Umdenken und Umsteuern in der Politik der ,Inneren Sicherheit'« wurde herausgegeben von: Gustav-Heinemann-Initiative, Humanistische Union, Internationale Liga für Menschenrechte, Strafverteidiger-Vereinigungen, Vereinigung Demokratischer JuristInnen, BAG Kritische PolizistInnen, Deutsche Vereinigung für Datenschutz, Europäische Vereinigung von JuristInnen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V. (Verfasser: Rolf Gössner).

2 Aufbruch und Erneuerung. Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1998, S. 1521 ff.

3 ent fällt

4 ent fällt

5 Vgl. Hecker, Kanthers langer Arm, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/1998, S. 145 ff.

6 Eine Kommission des Bundesjustizministeriums, die noch von Schmidt-Jortzig (FDP) einberufen worden ist, soll über die Reform des Sanktionensystems bzw. über Alternativen zu Geld- und Haftstrafen beraten. Zu den Kommissionsthemen gehören u.a. der Täter-Opfer-Ausgleich, das Fahrverbot, der Elektronisch überwachte Hausarrest, die Gemeinnützige Arbeit und Sanktionen gegen Unternehmen; vgl. die tageszeitung vom 5.1.99, S. 2.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater bündnisgrüner Fraktionen. Verfasser des von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen Memorandums in Sachen Menschen- und Bürgerrechte (»Umsteuern in der Politik der ,Inneren Sicherheit', »Frankfurter Rundschau« vom 14.10.98). Autor zahlreicher Bücher zu Themen der »Inneren Sicherheit«: u.a. »Mythos Sicherheit« (Nomos 1995); »Polizei im Zwielicht« (Campus 1996); neueste Veröffentlichung: »Erste Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1999.

Rolf Gössner


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