Logo Geheim 4/1998

Schily con Kanther
Über Bonn

Nun also haben wir eine rot-grüne Bundesregierung - und keine/r merkt es. Zumindest wenn man Otto Schily reden hört, den »neuen« Bundesinnenminister, bei dem man ganz automatisch an den alten denkt. Das hätten die Herren Kanther, Stoiber und Schönhuber an ihren Stammtischen nicht »deutlicher« formulieren können: »Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.« Auch ein Einwanderungsgesetz könne an dieser Situation nichts ändern, da die Zuwanderung dann auf »Null« gesetzt werden müßte. Prompt beglückwünschen die »Republikaner« den Innenminister zu seiner »Erkenntnis«, auch CSU und SPD pflichten ihm weitgehend bei, während die Grünen ihn als Otto »Manfred« Schily mehr oder weniger unsanft attackieren. Nur im außerparlamentarischen Raum kommt es zu einem Sturm der Entrüstung.

»Wir erkennen an, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß in der Vergangenheit stattgefunden hat und setzen auf die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen.« So steht es im rot-grünen Koalitionsvertrag. Dieser Satz schien all jene zu ermutigen, die auf eine solche einfache, aber überfällige Feststellung schon lange gewartet haben. Doch wer genauer hinschaut, muß feststellen, daß sich diese Anerkennung des Zuwanderungsprozesses ausschließlich auf die Vergangenheit bezieht - nicht etwa auf die Gegenwart und schon gar nicht auf die Zukunft. Deutschland - ein Einwanderungsland? Aber nein, signalisiert uns die rot-grüne Vereinbarung mit diesem Satz: Der Zuwanderungsprozeß ist abgeschlossen und Vergangenheit. Jetzt werden die zugewanderten »Altlasten« so gut wie möglich integriert. Auf diesen Koalitionsvertrag, das zeigen die Weglassungen, ist jedenfalls die Forderung nach einem Zuwanderungsgesetz nicht zu stützen - und wenn doch, dann würde es ohnehin ein Nullum, sofern es nach Otto Schily ginge.

Dieser »neue« Innenminister hat mit seinen stammtischkompatiblen Anmerkungen nichts anderes getan, als die Vertragsformel, die er zuvor mit Bedacht in die Koalitionsvereinbarung diktiert hatte, öffentlich zu bekräftigen und daraus eine durchaus populäre, ausgrenzende Schlußfolgerung zu ziehen: Eine neue Zuwanderung ist nicht verkraftbar - das Boot ist schließlich voll. Schilys rechtslastig anmutendes Gerede anzuerkennen, fiel den Sozialdemokraten nicht sonderlich schwer, den Grünen um so mehr. Aber sie kritisieren Schily nun für eine Äußerung, die sie selbst durch ihre Unterschrift unter das SPD-lastige Koalitionspapier erst ermöglicht haben.

Der nicht mehr ganz so neue Hardliner Otto Schily, daran müssen wir uns gewöhnen, ist kein Rechtsaußen in der SPD-Landschaft, sondern Repräsentant einer in der SPD vorherrschenden Law-and-order-Mentalität mit Tradition: Schon in der sozialliberalen Ära der 70er Jahre und während ihrer Oppositionszeit - zuweilen in faktisch Großer Koalition mit der rechtsliberalen Bundesregierung - hat die SPD diese »Qualitäten« unter Beweis gestellt. Als konvertierter Linker, ehemaliger RAF-Anwalt und Ex-Grüner wirkt Otto Schily in seiner nicht mehr ganz so neuen Heimat möglicherweise nur etwas »schärfer« als es eine rot-grüne Bundesregierung mit Rücksicht auf den grünen Partner eigentlich vertragen könnte.

Der beißende Geschmack von Schily con Kanther, den der Innenminister mit seiner Null-Toleranz in Sachen Zuwanderung verbreitet, konterkariert jedoch all jene Bemühungen, die mit der geplanten Neufassung des Staatsbürgerschaftsrechts verbunden sind. Immerhin kann diese geplante Reform als wirklicher Fortschritt bezeichnet werden, auch wenn sie mit zahlreichen Hürden versehen wird: Denn endlich soll bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft auf Geburtsort und Lebensmittelpunkt statt »deutsches Blut« bzw. deutsche Abstammung abgestellt werden.

Kinder ausländischer Eltern sollen künftig mit ihrer Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, wenn ein Elternteil bereits hier geboren wurde oder als Minderjähriger bis zum 14. Lebensjahr nach Deutschland eingereist ist und über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt. Einen Einbürgerungsanspruch erhalten Ausländerinnen und Ausländer mit achtjährigem rechtmäßigen Inlandsaufenthalt, aber auch Minderjährige, von denen wenigstens ein Elternteil zumindest über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt und die seit fünf Jahren mit diesem Elternteil in familiärer Gemeinschaft in Deutschland leben. Die einschränkenden Voraussetzungen: Die Betreffenden müssen für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen können und dürfen sich in der Bundesrepublik nicht strafbar gemacht haben. Unter den gleichen Voraussetzungen erhalten ausländische Ehegatten Deutscher nach dreijährigem rechtmäßigen Inlandsaufenthalt die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren besteht. Darüber hinaus soll den hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der EU besitzen, das kommunale Wahlrecht eröffnet werden.

Dieses Reformpaket wird die Rechtsposition von hier geborenen und hier langfristig lebenden AusländerInnen erheblich stärken, so daß die Bedeutung dieses Reformschrittes nicht zu unterschätzen ist. Doch wie sieht es mit den anderen Bereichen des rot-grünen Koalitionsvertrages aus, in denen es um Bürgerrechte und »Innere Sicherheit« geht? Wie steht es etwa um eine humane Flüchtlings- und Asylpolitik? Fehlanzeige. Obwohl es gerade für das Asylrecht enormen Handlungsbedarf gibt, um endlich zu einem menschlicheren Umgang mit Asylsuchenden zu finden, wurde hier praktisch nichts erreicht. Kein Wunder eigentlich, hatte doch die SPD bereits in ihrer Oppositionszeit tatkräftig an der Demontage des Asylgrundrechts mitgewirkt. Angesichts der fatalen Folgen dieser Demontage reicht es nun wirklich nicht aus, lediglich die lange Dauer der Abschiebehaft und des umstrittenen Flughafenverfahrens »im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes« überprüfen zu wollen oder eine einmalige »Altfallregelung« anzustreben oder geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe zu berücksichtigen - so wichtig solche Vorhaben im einzelnen auch sind.

Oder wie steht es um eine längst überfällige repressionsfreie Drogenpolitik? Eher schlecht. Zwar weisen die Feststellungen »Sucht ist Krankheit« und »Hilfe statt Strafe« den richtigen Weg - nämlich die Behandlung der Drogenproblematik tendenziell aus dem strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen zu verlagern. Konsequenterweise wurde die grüne Drogenbeauftragte Christa Nickels nicht im Innenressort, sondern im Gesundheitsministerium angesiedelt.

Aber um die erwähnte Umorientierung auch durchzusetzen, reicht es nicht aus, lediglich »Modellen« zur Einrichtung von »Fixerstuben« - wie in Hamburg oder Frankfurt - eine Rechtsgrundlage zu verpassen oder »Modellversuche zur ärztlich kontrollierten Originalstoffvergabe (Heroin an Schwerstabhängige) mit wissenschaftlicher Begleitung« zu legalisieren oder Rechtssicherheit für staatlich anerkannte Drogenhilfestellen zu gewährleisten. Solche Reformschritte gehen zwar in die richtige Richtung, erweisen sich aber bei näherer Betrachtung als Halbheiten: Denn zum einen liegen längst genügend Erfahrungen - etwa aus der Schweiz - vor, die weitere »Modellversuche« entbehrlich machen; zum anderen wird mit (legalisierten) Modellen und Modellversuchen weder dem Beschaffungsdruck und der Beschaffungskriminalität genügend entgegengewirkt, noch wird dem illegalen Drogenhandel insgesamt die Geschäftsgrundlage entzogen. Dazu bräuchte es einer allgemeinen Liberalisierung, einer differenzierten Entkriminalisierung des gesamten Drogenbereichs, also auch der Freigabe weicher Drogen - denn auch dieser Markt gehört zum Drogenmarkt, der aus der Illegalität herausgeschält werden muß. Doch davon steht kein Wort im Koalitionsvertrag (Andrea Fischer, grüne Gesundheitsministerin, und Otto Schily haben gleichwohl zugesagt, die Freigabe von weichen Drogen wenigstens zu »prüfen«).

Oder wie steht es um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik statt permanenter Repression und Gesetzesverschärfungen, wie wir sie aus den vergangenen Jahrzehnten kennen? »Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen«, so lautet die rot-grüne »Leitlinie«. Der bisherigen polizei- und strafrechtsdominierten Kriminalpolitik wird also keine Absage erteilt. Vielmehr soll einerseits auf diese repressive Kriminalpolitik bruchlos aufgebaut werden - wobei kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument, wie etwa die »Anti-Terror«-Gesetze, der Große Lauschangriff, die »Schleierfahndung«, revidiert oder wenigstens gestutzt wird. Andererseits soll diese herrschende Politik ergänzt werden um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik, wie sie vor allem von den Grünen gefordert wird.

Was bedeutet dieses Sowohl-als-auch? Es bedeutet die Kombination unterschiedlicher Ansätze: Das gesamte kriminalpolitische Spektrum soll ausgeschöpft werden - von der höchst problematischen Vorverlagerung der Strafverfolgung über die kommunale Kriminalprävention bis hin zu einer ursachenorientierten Kriminalpolitik. Auch der Passus, daß sowohl die »Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften« zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (von der SPD favorisiert) als auch kriminalpräventive Räte (von den Grünen favorisiert) nachhaltig unterstützt werden sollen, deutet in diese Richtung. Was unter »Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften« zu verstehen ist, bleibt allerdings, wie so vieles, offen. Doch einiges deutet darauf hin, daß die SPD-Seite hierunter ein »Fortknüpfen« der umstrittenen Kantherschen »Sicherheitsnetze« unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes (BGS) versteht - »Sicherheitsnetze«, unter denen schon heute ein Klima präventiver Intoleranz, von Ausgrenzung und Verdrängung sozialer Randgruppen herrscht. Es ist auch auffallend, daß sich der Koalitionsvertrag zu dem Problem einer Kompetenzausweitung des Bundesgrenzschutzes (BGS) vollkommen ausschweigt, obwohl es starke verfassungsrechtliche Bedenken gibt gegen den Ausbau des BGS zu einer zentralen Bundespolizei und gegen den Einsatz von BGS-Kräften bei der Bekämpfung von Alltagskriminalität.

Kürzlich machte Innenminister Schily den Vorschlag, die Befugnisse der Polizei noch weiter auszudehnen: Anstatt Bagatell- und Massendelikte, wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder einfache Sachbeschädigung zu entkriminalisieren und etwa als Ordnungswidrigkeiten einzustufen, soll künftig anstelle der Justiz die Polizei eigenständig Strafgelder verhängen dürfen. Mit Polizisten als »Ersatzrichtern« würden die faktische »Allzuständigkeit« und tendenzielle »Machtvollkommenheit« der Polizei noch einmal erweitert - damit aber auch ihre notorische Überforderung verstärkt. Darüber hinaus würde mit einer solchen Regelung die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative in verfassungswidriger Weise durchbrochen werden.

Apropos Durchbruch: In Sachen Menschen- und Bürgerrechte ist den rot-grünen Koalitionären ein solcher - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht gelungen. Auf Grundlage der Koalitionsvereinbarung wird von Otto Schily weiterhin nicht unbedingt »Gutes« zu erwarten sein. Ob die SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin ihren Kollegen - wie weiland Frau Leutheusser-Schnarrenberger ihren Widerpart Kanther - in seinen Law-and-order-Phantasien zu bremsen vermag, ist fraglich, haben beide doch » ein ähnliches Temperament«, so Frau Däubler.

Trotz der relativ tristen Aussichten in diesem Politikbereich haben es der rot-grüne Koalitionsvertrag sowie die hierauf basierende Politik verdient, einer nüchternen, differenzierten und kritischen Analyse und Beurteilung unterzogen zu werden. Denn der Machtwechsel könnte ja die historische Chance bieten, den in Jahren und Jahrzehnten systematisch malträtierten Grund- und Bürgerrechten wieder die Geltung zu verschaffen, die ihnen nach dem Anspruch einer freiheitlichen, demokratisch verfaßten Gesellschaft und eines liberalen, demokratischen Rechtsstaates zukommt. Maßstab der Beurteilung wird also sein, ob die rot-grüne Innenpolitik diesem Anspruch gerecht wird. Die Legislaturperiode hat erst begonnen .

(erweiterte Fassung eines Textes, der am 11.12.1998 in der Zweiwochenschrift »Ossietzky« Nr. 24/1998 erschienen ist)

Gössner, Rolf


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