Logo Geheim 4/1998

Nichts ist geheimer als die Angelegenheiten der Spione(1)
Texte zur Strategiediskussion (25)

Über Jahre hinweg bereiten die Kriegsparteien den Waffengang vor, die Entscheidung über den Sieg im Krieg aber fällt manchmal an einem Tag. Unter diesen Bedingungen die Lage des Gegners nicht zu kennen, ist der Gipfel an Unfähigkeit. Wem das nicht einleuchtet, der ist kein militärischer Führer und dem Fürsten nutzlos. Er wird nicht siegen. Die Verwendung von Spionen ist im Kriege von allergrößter Wichtigkeit. Sie bildet die Voraussetzung für den richtigen Einsatz der Armee. Unter diesen Umständen etwa mit Titeln, Belohnungen und Geld zu geizen, ist höchst unklug. Weise Herrscher und kluge Feldherren kämpften deshalb erfolgreich und siegten, vollbrachten deshalb Heldentaten und waren den anderen überlegen, weil sie vorher alles Nötige über den Feind in Erfahrung gebracht hatten.

Dieses Wissen im voraus wird nicht von Göttern gegeben und auch nicht durch Dämonen gebracht. Man hat es auch nicht aus Erfahrung oder durch Klügeleien. Die Kenntnis über die Lage des Gegners erhält man nur über Vermittlung durch Menschen. Kenntnis über die Geisterwelt erlangt man durch Orakel. Naturerkenntnis wird durch Erfahrung erworben. Die Gesetze des Universums sind durch die Mathematik zu entschüsseln. Aufschluß über die Pläne der Feinde erhält man nur über Spione. Zu diesem Zweck kommen fünf Typen von Spionen zum Einsatz. Wir nennen sie (1) Ortsansässige Spione, (2) Innere Spione, (3) Übergelaufene Spione, (4) Todgeweihte Spione und (5) Überlebende Spione. Wenn alle fünf Arten von Spionen im Einsatz sind, kann ihr Netz nie aufgedeckt werden. Das wird das göttliche Geheimnis, die göttliche Handhabung der Fäden genannt, der kostbarste Schatz eines Herrschers.

Ortsansässige Spione werden aus der einheimischen Bevölkerung des feindlichen Landes ausgewählt, mit Freundlichkeit geführt und als Nachrichtenlieferanten genutzt.

Innere Spione werden aus den Reihen der Beamten und Offiziere des Feindes geworben. Gedemütigte, Rachsüchtige, Begehrliche, Verbitterte, Ehrgeizige, Wankelmütige sollten heimlich aufgesucht und durch Ausnutzung ihrer schwachen Stelle auf die eigene Seite gezogen werden. Dadurch wirst du den Zustand des feindlichen Landes in Erfahrung bringen samt der Pläne, die gegen dich geschmiedet werden. Außerdem bietet sich Gelegenheit zu Intrigen. Aber - äußerste Vorsicht bei Inneren Spionen. Es könnte auch ein Hinterhalt drohen.

Todgeweihte Spione sind Spione aus den eigenen Reihen, die mit falschen Informationen versorgt und dann durch bewußte Irreführung oder Bloßstellung zum Überlaufen veranlaßt werden. Der Feind, der ihrem Bericht Glauben schenkt und sein Verhalten danach ausrichtet, ist dadurch getäuscht. In der Niederlage wird der Feind sich wissentlich und willentlich getäuscht sehen und den Todgeweihten Spionen das Leben nehmen.

Übergelaufene Spione werden aus den Reihen der Spione des Gegners geworben. Hast du erfahren, daß sich ein Spion des Feindes in deinem Lager aufhält und dir nachspürt, dann verpflichte ihn dir unbedingt durch Milde, lasse ihn zu dir bringen und beherberge ihn bei dir. So kannst du dem Feind einen Spion abwerben und gegen ihn einsetzen, dich seiner bedienen. Durch ihn kannst du alles erfahren. Durch ihn kannst du Ortsansässige und besonders Innere Spione gewinnen und führen, weil er weiß, wer wo seine schwache Stelle hat. Durch ihn kannst du im voraus jegliche List des Feindes erkennen, und du kannst ihn als Spion des Todes benutzen, um den Feind in die Irre zu führen. Außerdem kannst du durch ihn deinen Überlebenden Spion gezielt und wirksam einsetzen, entsprechend deinen Kenntnissen, Mutmaßungen und Absichten.

Das Ziel und der Sinn der Spionage in allen fünf Formen ist es, Wissen über den Feind zu erlangen. Dieses Wissen kann in erster Linie nur vom übergelaufenen Spion kommen. Er bringt nicht nur selbst Informationen, sondern macht es auch möglich, die anderen Arten der Spionage vorteilhaft zu nutzen. Deshalb ist es wichtig, den übergelaufenen Spion großzügig zu behandeln.

Überlebende und Zurückkehrende Spione bilden die übliche Klasse von Spionen. Es müssen Personen von überragendem Verstand sein, die unbedarft erscheinen, von unscheinbarem Äußeren, aber mit eisernem Willen, stark, mutig und tatkräftig, geschickt und an jede Art von Arbeit gewöhnt, seelisch und körperlich belastbar im Ertragen von Hunger und Kälte, von Schmach und Schande.

Einer Armee darf nichts so sehr am Herzen liegen wie ihre Spione. Keiner verdient reichere Belohnung als die Spione. Nichts ist geheimer als die Angelegenheiten der Spione. Wird der Inhalt einer geheimen Nachricht schon bekannt, bevor der Bericht des Spions beim Herrscher eingegangen ist, so sind sowohl der Spion als auch diejenigen, denen er Mitteilung von der geheimen Nachricht gemacht hatte, mit dem Tode zu bestrafen.

Ohne ein Höchstmaß an Kenntnissen vermagst du die Spione nicht erfolgreich einzusetzen. Ohne Wohlwollen und Gerechtigkeitssinn bist du nicht fähig, Spione zu führen. Ohne eigenes Gespür und eigenen Scharfsinn kannst du die von den Spionen erhaltenen Ergebnisse nicht verwerten. Vor allem Gespür mußt du haben!(2)

Nutze bei jedem Unternehmen umsichtig den Dienst deiner Spione. Ganz gleich ob du die Streitkräfte des Feindes vernichten willst, ob du eine Festung angreifen oder nur einen seiner Leute töten willst, auch dann bringe auf alle Fälle zuerst die Namen der Diener des Feldherrn, seiner Gehilfen, des Führers der Wachtruppe und der Leibwächter in Erfahrung. Befiehl deinen Spionen, dies alles unbedingt herauszufinden.

Die Leitung der Spionage aller fünf Gruppen ist unbedingt die persönliche Sache des Herrschers(3).

Die Überlebenden und Zurückkehrenden Spione sind deine Augen und Ohren. Durch sie kennst du den Gegner. Darum verhalte dich ihnen gegenüber besonders großzügig.

Sei klug und weise. Denn nur weise Herrscher und kluge Feldherren können sehr begabte Menschen zu ihren Spionen machen und dadurch große Taten vollbringen.

(1) Autor und Text aus der späten Chou-Zeit, also des kriegerischen Feudalismus im China des 8. bis zum 3. Jahrhundert v.u.Z.; gegeben ohne Anspruch auf philologische Genauigkeit, im Gegenteil: der dunkle Text wurde bewußt aufgehellt ., insgesamt nach: J.J. M. Amiot (ed.), 1772: Art Militaire des Chinois, Paris; Lionel Giles, 1910: Sun Tzu on the Art of War. The Oldest Military Treatise in the World, Shanghai/London; C. Cholet (ed.), 1922: L`art Militaire dans Lïantiguité Chinoise, Paris; The Principles of War by Sun Tzu. A Royal Air Force publication, Colombo 1943; S. Griffith, 1963: Sun Tzu, the Art of War, Oxford Clarendon; Sun Tze, Die dreizehn Gebote der Kriegskunst. Einleitung von Günter Maschke. Rogner & Bernhard München 1974; Sunzi, Die Kunst des Krieges, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von James Clavell, Droemer Knaur München 1988 (amerik. Originalausgabe The Art of War, 1983)
(2) hier erweist sich Sun-tzu als Theoretiker der Condottiere und Manager, die die Voraussetzungen ihrer Macht auch gerne im Trüben der Intuition ansiedeln, keinem Plan, keiner Kontrolle zugänglich . Verschiebt man die zentralen Aussagen des zweieinhalbtausend Jahre alten und vor 1800 Jahren zustimmend kommentierten Textes insgesamt topologisch auf die Zwänge und das Selbstverständnis der Vertreter wirtschaftlicher Einheiten in Konkurrenzgesellschaften unserer Tage, leuchtet unmittelbar ein, warum Sun-tzu einen festen Platz unter den strategischen Allgemeinplätzen des Wirtschaftsteils großbürgerlicher Zeitungen einnimmt.
(3) siehe die aktuelle Diskussion in Deutschland um die Anbindung der Geheimdienste bei der Regierung

Sun-Tzu


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