Logo Geheim 3/1998

Wider schlechte Wahlwerbung. Für eine andere Politik
Klaus Vack antwortet Gerhard Schröder

»Ich gehe nicht nur nicht zur Wahl, da nichts zu wählen ist. Vielmehr möchte ich aufklärerisch andere davon überzeugen, daß es notwendig ist, so aktiv wie möglich außerhalb der etablierten Politik wahrhaft politisch zu wirken.«

Klaus Vack
An der Gasse 1
64759 Sensbachtal
Telefon 06068/2608
Telefax 06068/3698

Herrn Gerhard Schröder
c/o Staatskanzlei des Landes Niedersachsen
Postfach 223
30002 Hannover

Sensbachtal, 26. Juli 1998

Sehr geehrter Herr Schröder, es geht um Ihren an mich adressierten offiziösen Brief in Sachen Bürgerrechte, Rechtsstaat und innere Sicherheit, der zusammen mit Briefen an 25 weitere Adressatinnen und Adressaten in dem dieser Tage erschienenen Buch »Und weil wir unser Land verbessern . 26 Briefe für ein modernes Deutschland« abgedruckt wurde, einem Buch, bei dem es nach meinem Empfinden um pure Wahlwerbung für den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder geht. Dieses Empfinden teilen all jene meiner Freundinnen und Freunde, die in der kurzen Zeit nach Erscheinen des Buches dieses gelesen und mich spontan angerufen haben. Der Brief wurde mir durch SPIEGEL-Online bereits am
10. Juli 1998 zugestellt. Somit also nicht von Ihnen persönlich, nicht mit Ihrer Unterschrift. Auch wurde ich nicht gefragt, ob ich mit Ihnen in einen Briefwechsel dieser Art treten wolle.

I.

Bevor ich Ihnen jetzt schreibe, habe ich mir überlegt, ob ich diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen sollte. Ich vermute nämlich, daß Sie Ihren Brief an mich und an die anderen 25 Personen geschrieben-schreiben-lassen haben, um uns - wie ich schon andeutete - in unseren jeweiligen politisch-persönlichen Einzugsbereichen als Werbeträger zu gebrauchen. In meinem Falle, um mit dem Namen Klaus Vack und seiner bürger- und menschenrechtlichen Aura Ihre beziehungsweise Ihrer Werbeberater Überlegungen zu innerer Sicherheit und Bürgerrechten zu verknüpfen. Deshalb gehe ich davon aus, daß Sie an mir und meiner Meinung gar nicht interessiert sind. Allenfalls insoweit, als Sie durch meine Antwort und die Antwort anderer zusätzliche Medienaufmerksamkeit erwecken und sich in Ihren Antworten auf die Antworten noch einmal wohlgefällig profilieren können. Zu einem solchen Wahlwerbepingpong möchte ich nicht beitragen. Ich wende mich deshalb auch dagegen, daß Sie und Ihre Wahlkampfberater über die penetranten Maschen der üblichen Werbekampagnen hinausgehen, die u.a. ungewollt unser aller Briefkästen füllen. Während uns sonst die Werbung aller möglichen Unternehmen und Interessengruppen anonym erreicht, ohne daß wir mehr davon »betroffen« wären, als daß wir unseren Papiercontainer füllen, dringen Sie auf meine Person ein und bekleben mich öffentlich mit Ihrer Duftmarke. Das ist nicht nur reichlich unappetitlich. Das ist mehr noch: schlechter Stil. Würde auf Formen im öffentlichen Umgang noch geachtet, müßte dieser Werbegag für Sie und Ihren aufhaltsamen Aufstieg zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland kontraproduktiv ausfallen.

II.

Zwei Gründe sind es vor allem, die mich doch dazu bringen, Ihnen zu antworten. Zum einen ist es die Argumentationsweise Ihres Briefes selbst. Obwohl diese durch das ausgezeichnet ist, was ich - um es ganz ungeschminkt zu sagen - politische Unwahrhaftigkeit nenne, werden die zwischen dem Einerseits und dem Andererseits schwankenden Gedanken Ihres Briefes so aufgetischt, daß die Menschen, die mich persönlich kennen oder von meiner politischen Arbeit »aus der Ferne« wissen und sich an dieser Art menschenrechtlichen Engagements beteiligen oder orientieren, geblendet werden könnten. Manche von ihnen sind in der Sache »Bürgerrechte/innere Sicherheit« aktuell weniger »drin«. Ihnen gegenüber fühle ich mich verpflichtet, meine Position klar zu markieren. Zum zweiten gibt mir Ihr Brief die passende Gelegenheit, unser qualitativ verschiedenes Politikverständnis auszudrücken. Dasselbe wird symptomatisch daran deutlich, daß Sie alles tun und alles letzte programmatische Gepäck dafür abwerfen oder umladen, um wahlvermittelt zum »Kanzler der Deutschen« gekürt zu werden. Mit noch längerer und vielfältigerer politischer Erfahrung als Sie versehen (allerdings ohne in mir »politische Machtinstinkte« erkennen zu können), gehe ich nicht nur nicht zur Wahl, da nichts zu wählen ist. Vielmehr möchte ich aufklärerisch andere davon überzeugen daß es notwendig ist, so aktiv wie möglich außerhalb der etablierten Politik wahrhaft politisch zu wirken. Mein Credo (das, dessen bin ich mir bewußt, sowohl heute als auch in Zukunft nicht zum Allgemeingut in diesem Staat BRD gehört bzw. gehören dürfte): Nur wenn der durch Bürgerinnen und Bürger erzeugte politische Druck von außen unabhängig und stark genug ist, besteht überhaupt eine Chance, daß eine demokratische Verfassungsreform im weitesten Sinne des Wortes zustande kommt, so daß unsere Zukunft nicht weiterhin unverantwortlich und human ungemein kostenreich blockiert bleibt.

III.

Zunächst zum argumentativen Stil Ihres Briefes. Dieser zeichnet sich, ich habe dies vorstehend angedeutet, durch ein merkwürdiges Hin und Her aus. Dieses Hin und Her hat mehrere Spielarten. Die erste, die Ihren Brief durchzieht, verläuft nach der Regel: Engagement für Bürgerrechte, wie andere und ich es betreiben, »ja«. Indes: der verantwortliche Politiker muß »abwägen«, er kann »nicht nur die eine Interpretation sehen«. Die zweite Spielart, die sich mit der ersten verschlingt, bezeichnet Ihr eigenes Tun: seinerzeit als Anwalt, da Sie für Bürgerrechte Ihrer Mandanten eingetreten sind, heute als Ministerpräsident und Kanzler in spe, da Sie das »Ganze«, das »Gemeinwohl« im Blick haben müssen. Der Hinweis auf Otto Schilys Tätigkeit als »RAF-Anwalt« in den siebziger Jahren und auf seine Verteidigung des Großen Lauschangriffs als Funktionär der SPD-Fraktion illustriert diese Spielform zusätzlich. Auch die dritte Spielart ist den anderen konform. Sie wird durch einen offenkundig zentralen Satz Ihres Briefes ausgeflaggt, der letzterem als Motto beigegeben ist: »Alle müssen rechtsstaatlich auf ihre Weise geschützt werden: Angeklagte, Täter und Opfer.« Diese notwendige Mehrseitigkeit wird zusätzlich durch das Zitat Ihres erfolgreichen Vorbildes Blair hervorgehoben: »Hart gegen das Verbrechen und gegen die Ursachen.« Ist dieses Hin und Her der Ambivalenz der Probleme nicht angemessen? Insbesondere beim Stichwort »innere Sicherheit«? Und ist es nicht persönlich ehrenwert, vorab ehrlich, wenn Sie als Spitzenpolitiker mitten im Schwarz-Weiß (oder Rot) malenden Wahlkampf solcherart differenzieren? Werden im Wahlkampf ansonsten nicht Kanthersche Kantenschläge erwartet?

All diese Fragen müßten zu Ihren Gunsten bejaht werden, spielte das argumentative Hin und Her nicht auf glitschigem und täuschendem Grund. Als handele es sich bei Bürgerrechtlern zum ersten um notorisch bornierte »Gesinnungsethiker«, die einseitig Rechte für (potentielle) »Täter« verlangten, weswegen der »verantwortungsethische« Politiker, also Sie, Herr Schröder, alle Seiten und alle Bürger, also auch die Opfer, im Blick haben müßten.

Sie haben übersehen, daß von uns und auch von mir seit langem eine Politik angemahnt wird, die auf dem Fundament der Bürgerrechte aller aufbaut. Ich widerspreche entschieden, wenn auch nur der Hauch des Eindrucks erweckt wird, der mich und Gleichgesinnte auf die Rolle von wackeren, aber etwas tumben Bürgerrechtlern abschieben möchte. Die »Verantwortung« »zum Wohle der Allgemeinheit«, die Sie in leerem Pathos für sich (und für die »politische Klasse«) in Anspruch nehmen, besagt, auch im Lichte Ihres Briefes besehen, nichts anderes, als daß Sie und die anderen »allgemein« verantwortlichen Politiker den jeweils herrschenden Interessen gemäß opportunistisch agieren können wollen. Und das heißt nicht zuletzt: gegen die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern.

Auch die Argumentationsfigur Ihres zweiten Hin und Her täuscht Differenzierung vor, wo es Ihnen um Entdifferenzierung zu tun ist, indem Sie versuchen, aktuelle bürgerrechts- und menschenrechtswidrige Entscheidungen à la Großer Lauschangriff aus der Kritik zu nehmen. Zum einen gilt: Frühere Verdienste zählen nicht, wenn es um aktuelle Taten geht. Daß Otto Schily (wie dieser Brief zeigt: mit Ihrem Beifall) den Großen Lauschangriff mit allen Haken und Ösen verteidigt hat, hat ihn offenkundig »innenministerfähig« gemacht. Herr Schily hat gezeigt, daß er Kröten schlucken, sich bei seinen früheren Freunden unbeliebt machen und sich staatsmännisch spreizen kann. Sonst hätten Sie ihn nicht in Ihre FrauMannschaft genommen. Jetzt ist er ministrabel. Weil er eine sogenannte sicherheitspolitische, in Wirklichkeit negativ ausstrahlende Grundrechtsveränderung mit scharfem Herrschaftsverstand und gegen alle Einwände immun mit durchgesetzt hat. Gleiches gilt für das dritte Hin und Her. Daß strafrechtlich, strafverfolgerisch und strafvollzieherisch vor allem das etatistische Interesse durchgepaukt wird und weder die Täter noch die Opfer als Personen viel zählen, wird seit langem bürgerrechtlich kritisiert. Strafrecht und Strafverfolgung gehorchen vorrangig auch heute noch dem Interesse des Staates, seinen eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Das ist der Skandal. Dieser kann nicht dadurch behoben werden, daß Aussagen von Opfern, die den stark strafenden Staat verlangen, dafür herhalten sollen, das Strafrecht unverändert zu belassen, ja, wie Sie in Ihrem Brief, bezogen auf Jugendliche, andeuten, auch noch zu verschärfen. Als ob damit auch nur im geringsten der Opferschutz verbessert und vor allem die Prävention besser gewährleistet würden, es damit weniger Verbrechen gäbe. Die verbrechensharte Attitüde ersetzt nicht nur jegliche mittel- und langfristig orientierte Bekämpfung von Verbrechensursachen, sie wirkt darüber hinaus sogar verbrechensproduktiv. Nein, sehr geehrter Herr Schröder, »so nicht« (um ausnahmsweise Rainer Candidus Barzel zu zitieren, der mit der gleichen Masche seinerzeit - Sie werden sich erinnern - sich an den »Herrn Bundeskanzler« (Brandt) gewandt hat). Ihre Hin und Her, um diese ein letztes Mal zu apostrophieren, sind nicht Ausdruck skrupulöser Einsicht in die Mehrwertigkeit vieler Probleme. Sie sind vielmehr darauf ausgerichtet, nachdenkliche Schleier zu weben, hinter denen Sie und Ihresgleichen alles, aber auch alles, rechtfertigen können.

IV.

Im übrigen, darauf habe ich, im Rahmen Ihres Briefes bleibend, ganz verzichtet, spricht Ihr Tun als Ministerpräsident auch und gerade bürgerrechtlich eine gebrochene, ja, eine Fremdsprache. Und dafür sind Sie verantwortlich. Und das hat nichts mit »Ausgewogenheit« und »Allgemeinwohl« zu tun, wenn man unter letzterem etwas demokratisch Qualifiziertes versteht und nicht die Resultante aktuell am meisten gängiger Interessen. Letztere werden allemal, das wissen Sie, um mit Kurt Schumacher aus seiner Zeit als Reichstagsabgeordneter der SPD zu reden, »durch den permanenten Appell an den inneren Schweinehund des Menschen« am leichtesten erreicht. Ich nenne beispielhaft nur folgende niedersächsischen »Glanztaten«:

- die polizeiliche Handhabung der Demonstrationen rund um Gorleben;

- das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz von 1996;

- die Art, wie während der »Chaostage« 1996 mit Jugendlichen in Hannover Stadt und Landkreis verfahren worden ist. Muß ich Sie zusätzlich an Ihre eigenen Äußerungen auch im Zusammenhang mit der Ausländer-, Asyl und Abschiebepolitik (u.a. von Bürgerkriegsflüchtlingen) erinnern? Was tut »man« nicht alles, um Wahlen zu gewinnen? »Man« schreibt sogar, als raspele man Süßholz, an Klaus Vack im abseits gelegenen Sensbachtal.

V.

Da ich mich letztendlich entschlossen habe, Ihnen diesen Antwortbrief zu schreiben, will ich aus der Vielfalt des hier schon aus Platzgründen nicht vollständig Behandelbaren nur noch einige Knackpunkte kurz ansprechen. Vorne habe ich bereits bemerkt und erläutert, daß mir Ihr Brief die passende Gelegenheit gibt, unsere qualitativ verschiedenen Politikverständnisse auszudrücken. Das bedeutet, daß meine Antwort zwar sehr wohl an Sie, Herr Schröder, persönlich gerichtet ist, daß sie um Ihre und meine Person kreist, daß der Antwortbrief aber gleichermaßen auf einen größeren Personenkreis zielt, den ich so mit meinen Mitteln zu erreichen trachte. Ich bitte also noch um einige Briefseiten Geduld.

- Alle 26 Briefe, mit denen Sie »pluralistisch volksparteilich« und vor allem schröderisch Wahlwerbung treiben, belegen einen Sachverhalt mit nahezu bedrückender Eindeutigkeit: Sie mögen eine angenehme Person sein; Sie mögen sich »gut« als 'Kanzler kleiden; indes, eine andere Politik, eine, die diesen Namen verdiente, werden Sie zusammen mit Ihrem wie immer zusammengesetzten Kabinett nicht machen. Die verständliche Sehnsucht, sich den Kanzlerblick nicht noch einmal vier Jahre durch die massige Kohl-Gestalt verstellen lassen zu wollen, mag groß sein. Sie mag auch viele dazu veranlassen, alte, älteste Freunde von mir, wie z.B. Oskar Negts Buch (»Warum SPD?«) ausweist, Sie und die SPD zu wählen. Das klingt just im Zeitalter der globalen Sachzusammenhänge, gerade so, als bedeute, wie in den »guten alten Zeiten« der Personenwechsel einen Politikwechsel über eine kleine Elitezirkulation hinaus.

- Daß die Wahl am 27.9.1998 einen solchen überfälligen und notwendigen Politikwechsel nicht in Szene setzen kann, liegt nicht an Ihnen, Herr Schröder. Sie sind wie wir alle, so wir wählen oder gewählt werden wollen, nur Ausdruck der schlechten, das heißt nicht mehr zeitgemäßen und darum alle wichtigen Probleme versäumenden Verfassung liberal-repräsentativer Demokratie. Gewiß, Personen, so auch Sie als Kanzlerkandidat oder später möglicher Kanzler, könn(t)en manche Akzente verschieden setzen. Und in manchen Bereichen können solche Akzente immer noch viel bedeuten (ob das unsägliche Mahnmal zu Berlin gebaut wird oder ob wenigstens ein halbes Prozent der sozialpolitischen Mittel zugunsten der Ärmsten der Armen umverteilt wird). Selbst solche Akzente jedoch sind in Ihrem und der SPD Falle unwahrscheinlich, weil Sie und Ihre Partei keine entsprechende Aufklärung und Mobilisierung in Richtung mündige Bürgerinnen und Bürger betrieben haben und auch in diesem »Wahlkampf« nicht betreiben. Sie sind programmatisch politisch restlos in die Werbung geschlüpft und stehen deshalb, selbst wenn Sie am 27.9.98 »erfolgreich« sein sollten, ohne entsprechend aufgeklärte und in Sachen Reform legitimationsfähige Bevölkerung da. Letzteres war schon ein erhebliches Problem der sozialliberalen Koalition seit 1969, obgleich seinerzeit innerhalb der Regierungsparteien und außerhalb derselben die Situation, etwa der Grad der reformoffenen Mobilisiertheit, ungleich größer gewesen ist. Paradoxerweise - und darum scheiterte die Politik der inneren Reformen früh -wollte auch Willy Brandt »mehr Demokratie wagen«, ohne die etablierten Institutionen zu verändern, sozusagen vom Kabinettstisch aus (und er wagte so gut wie nichts, weil die gegebenen Systemzwänge viel zu stark waren).

- Wenn ich feststelle, daß die gegebene Verfassung (ich meine hier die Gesamtorganisation der Politik und nicht nur die geschriebene Verfassung des Grundgesetzes) durchgreifende und höchst nötige demokratische Reformen angesichts der gestellten Probleme qua Wahlen kaum möglich macht, dann rede ich damit keiner »schicksalsergebenen« Passivität das Wort. Im Gegenteil. In der Tat gilt, weit über das hinaus, was Willy Brandt großmütig und kleintätig verhieß: Mehr Demokratie zu wagen. Es ist hoch an der Zeit, die historisch verständliche Schwäche oder Lüge liberaler Demokratie zu beheben: nämlich die Bevölkerung (deutsch und als Einheit falsch: »das Volk«) nicht länger auf den Akt periodischer Wahlen zu beschränken. Nur dann wird es in Zukunft möglich sein, daß politisch vor allem mit der Ressource allgemeine Legitimation durch Bevölkerung gegen privat und politisch einseitige Interessen »gewuchert« wird, statt gesellschaftliche Emanzipierung und Politik von unten nach oben durch den »starken Staat« fortwährend bürokratisch-administrativ zu blockieren.

- Mit anderen Worten: Damit Chancen für gründliche und notwendige Reformen, die eines langen Atems bedürfen, überhaupt eröffnet werden, müss(t)en die etablierten Institutionen und ihre Vertreter von außen gedrängt, gedrückt, herausgefordert und herausdemonstriert werden. Die Hoffnung, innerhalb der etablierten Institutionen reformieren zu können, trügt heute mehr denn je, so verständlicherweise sie viele hegen. Die jüngere Geschichte der Bundesrepublik kann als guter Beleg für beide Argumente reklamiert werden. Sowohl dafür, daß »man« sich selbst betrügt, wenn man innerhalb der erstarrten Institutionen liberaler Demokratie sowie der meisten Interessengruppen glaubt, habhaft und relevant reformieren zu können. Die jüngere bundesdeutsche Geschichte bestätigt zugleich trotz aller Einschränkungen, wie wirksam außerparlamentarische Opposition im weitesten Sinne zu sein vermag. Die Illusion des »Marschs durch die Institutionen« - und neuerdings des Experiments »Grüne« - ist nicht durch individuell verständlichen Opportunismus primär bewirkt worden, sondern dadurch, daß das Netz positiver und negativer Sanktionen, über die nicht zufällig herrschende Einrichtungen verfügen, zu stark ist. Auch die Reformwilligsten passen sich deswegen an, Wie wirksam trotz der erheblichen Grenze, die das »System« setzt, außerpartamentarische Aktivitäten sein können, belegt die Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen Es heißt nicht, diese zu überschätzen, wenn man feststellt, daß die meisten wichtigen Neuerungen seit Mitte/Ende der sechziger Jahre auf Anstöße solcher Gruppierungen zurückzuführen sind.

- Also lautet die aus vielen Erfahrungen und Analysen verkürzt vorgetragene, sachlich verbindliche Einsicht: Wer eine neue, eine andere, wer, genauer gesagt, endlich Politik will, eine, die gestaltet und nicht polizeilich und sozial diskriminierend ökonomisch produzierten Problemen dienstfertig hinterher rennt, der oder die geht nicht zur Wahl, jedenfalls nicht in der Hoffnung auf eine »Wende«. Der oder die wird und bleibt aktiv in der mehr denn je wichtigen außerparlamentarischen Opposition. Nüchtern betrachtet sind die »Erfolge«, die als Brotkrümel vom etablierten Politiktisch fallen, viel trockener als die Brosamen, die - freilich ohne Bundesverdienstkreuz und leider oft ohne regelmäßiges Einkommen - errungen werden können, wenn man, wenn wir Bürgerinnen und Bürger »die« Politik im Sinne Blochscher »Konkreter Utopie« in die eigenen Hände zu nehmen versuchen.

...

Das also ist ein Teil meiner Antwort, die ich Ihnen, Herr Schröder, auf Ihren an mich gerichteten Brief schulde, gerade weil Sie mich nicht persönlich gemeint haben, sondern mich als Werbeträger gebrauchten. Und weil Sie mich gleichsam gezwungen haben, mich gegenüber denjenigen »zu rehabilitieren«, die Klaus Vack kennen und mit denen ich im gemeinsamen basispolitischen Engagement verbunden bin.

Mit freundlichem Gruß

Vack, Klaus


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