Logo Geheim 3/1998

Wohin am »Tag der Deutschen Einheit«? Zur »Geburtstagsfete bei Ossī«!
Entwurf zu einer Tischrede: In Nizza wählen 38% rechtsradikal

Mit nationalen Revolutionen haben wir kleinen Leute bis heute kein großes Glück gehabt, am 10. Dezember 1808 nicht und nicht am 18. Januar 1871, am 1. August 1914 nicht und nicht am 30. Januar 1933.

Wir und unsere Ahnen sind trotz aller nationalen Erhebung nicht nur immer ganz unten geblieben, wir haben uns zu schlechter Letzt sogar noch in die Erde eingraben oder in den Kellern verbergen müssen.

Daher die Volksweisheit: Wer mit den Nationalen geht, soll sich lieber gleich begraben lassen.

Das gilt auch für den 9. November 1989, den wir seit acht Jahren alljährlich am 3. Oktober zu feiern haben: Tag der Deutschen Einheit - aber unter dem Fahnenmeer liegt die unversöhnbare Zwietracht, die Karl Kraus reimte:

Aus zwei Teilen besteht das Vaterland,

die nichts miteinander noch je verband,

und nichts wird sie je miteinander verbinden:

Wer nicht vorn steht, wird nur den Nachteil finden.

So wie Kurt Tucholsky »Die beiden Deutschland« der Weimarer Republik beschrieb, ob nun »vorn und hinten« oder »oben und unten«, und George Grosz sie zeichnete, ganz so zeigen sie sich heute nicht mehr, noch nicht wieder.

Aber der Fakt der zwei Nationen in einem Staat gilt wieder, Disraeli und Bebel seien als Zeugen gerufen: Wieder regiert im vereinten Deutschland das Eigentum die Eigentumslosigkeit. Wieder endet der demokratische Sektor in ganz Deutschland am Werkstor. Wieder entscheidet in ganz Deutschland die nicht legitimierte Macht weniger Eigentümer über das Schicksal von Millionen Eigentumslosen. Wieder sind in ganz Deutschland die Lebensmittel der Vielen ein Posten auf der Kostenseite der Wenigen - Einkommen dort, Lohnkosten hier.

Deshalb enthält wieder in ganz Deutschland jede abhängige Beschäftigung die Unsicherheit der Existenz.

Bedingungen und Stufen des Menschenrechts auf Scheitern im vereinten Deutschland: Abbau der Schutzrechte der Arbeit, Verschlechterung der Arbeitsvertragsbedingungen, Schwächung der Gewerkschaften im Betrieb und außerhalb, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Abbau von Arbeitsplätzen, Dequalifizierung, Entlassung, Betriebsschließung, Verlagerung der Produktion, Abbau der Arbeitsförderung, Abbau der Anspruchsrechte, Abbau der Rechte der Arbeitsuchenden, Verschärfung der Sanktionen gegen Arbeitsuchende, steigende Zumutung, Zwangsmittel, Leistungskürzung, politische und soziale Diffamierung und Diskriminierung, Leistungsverweigerung, Abstieg in die Sozialhilfe, illegale Praxis der Behörden, Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit, Entwürdigung, Ausgrenzung, Einsamkeit - Elend, millionenfach.

Ein Drittel von uns im vereinten Deutschland befindet sich auf der einen oder der anderen Stufe dieser Treppe, in einer Gesellschaft der Niedertracht. Die Verfassung garantiert Würde, Selbstbestimmung, freie Entwicklung der Persönlichkeit.

In Nizza wählen 38% rechtsradikal.

Das regierende Eigentum (Zauberformel KVP = kontinuierlicher Verbesserungsprozeß oder - knien vor Piech?) formt sich einen Staat und seine Diener nach seinem Bilde, PR-Leute wie Verwalter: Erfolg setzt Recht, Legalität verwandelt sich in Opportunität, Rechtsstaatlichkeit in informelle Systeme, Begründung in Akzeptanzwerbung, in Plazierung am Meinungsmarkt, offen, nicht heimlich. Minister wie Abgeordnete haben ihren Preis, den wir kleinen Leute nicht zahlen können (die Kommune von Paris orientierte sich an Facharbeiterlöhnen für ihre Abgeordneten), wenn wir auch die Zeche zahlen müssen; die Verwaltungen haben ihre gesetzeswidrigen Dienstanweisungen, heimlich, nicht offen, nur die Praxis ist offen. Grundrechtsverweigerung heißt Eindämmung von Mißbrauch, und Entdemokratisierung heißt Beschleunigung oder Europäisierung.

Die politische Verkommenheit des Bundestages war schon vor anderthalb Jahrzehnten so weit fortgeschritten, daß er mit übergroßer Mehrheit ein Gesetz verabschiedete, das anschließend von zwei Hausfrauen und einem Gerichtsreferendar mittels einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall gebracht wurde.

Von der Berliner Republik gilt c.g.s., was Karl Kraus 1926 der österreichischen Republik ins Stammbuch schrieb:

Die Republik soll ich zum Geburtstag feiern?

Daß wir sie haben, ihr beteuern?

Sie ist jetzt im Alter von acht Jahren.

Ich kannte Kinder, die begabter waren.

Es bleibt wohl die beste von ihren Gaben,

daß wir keine Monarchie mehr haben.

Es bleibt wohl die beste der Gaben der Berliner Republik, daß wir keinen Faschismus mehr haben. Auf den prompten Einwand nur ein Satz:

Wohl wahr - die DDR hinterließ Aktenberge; aber Aktenberge, keine Leichenberge.

Das Kaiserreich mit seinen Generälen Hindenburg und seinen Marineoffizieren und späteren Staatssekretären von Weizsäcker hinterließ Leichenberge.

Der Kaiser ging, alle anderen blieben, die Generale wie die Staatssekretäre, und gaben sich Mühe, im eigenen Land die Metzeleien der Kolonialkriege zu praktizieren, was zeitweise und regional begrenzt sogar gelang, man gab sich alle Mühe, aber die Leichenberge blieben vergleichsweise klein; man ersetzte Quantität durch Qualität: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner, Walter Rathenau, jeder ergänze selbst; man ließ marschieren, mit Kapp gegen die Republik und mit Stresemann und Seeckt gegen Republiken - alles Teil der Vorbereitung zum neuen Waffengang.

1933 gingen die Demokraten - mit Ausnahme der ganzen Bevölkerung und weniger Überlebenskünstler - ins Exil oder in die KL, alle anderen blieben, die Generale wie die Staatssekretäre, und gaben sich Mühe, Hitlers Regierung einzumauern, damit sie Richtung halte mit der versprochenen »unvergleichlichen Propaganda und rücksichtslosen Brutalität«, womit »die antinationale Arbeiterklasse« in den Schoß der Nation zurückgeholt werden sollte, argwöhnisch, in den braunen Kolonnen könnte doch ein sozialistisches Experiment lauern; als Hitler ihren Argwohn tätig zerstreut hatte, kamīs zum Tag von Potsdam, wo Kohl und Reagan und Mitterand über den Gräbern des Alten Fritz und der Leibstandarte mit Ernst Jünger auf ein neues Diebstahlbad schworen. -

Das ging wohl zu schnell. Das war zu sehr gerafft. Das heißt soviel wie:

Als die Veranstalter des Unternehmens Faschismus im Dezember 1941 vor Moskau gesehen hatten, daß ihre Rechnung nicht aufginge, entschieden sie sich für ein Leben nach dem Faschismus - ohne den falschen Nero, seinen Hofpöbel und seine Prätorianer.

Die Faschisten mußten gehen oder hängen (um des Reimes willen), ihre Brotherren blieben - Generäle, Hauptleute, Staatssekretäre, Diplomaten, Wirtschaftler in Unternehmen, Selbstverwaltungsorganen und Ministerien.

Sie rehabilitierten sich alle gegenseitig, vom Banker Abs bis zum Unternehmer Zangen, vom Blutrichter und Henker bis zum Kriegsplaner und General, und erklärten zum Widerstandskämpfer jeden, der keinen Widerstand leistete. Wo es sein mußte, wurde die Weste in Weihwasser gewaschen, so wie - zur Veranschaulichung - sich heute Otto Schily die Absolution für den Lauschangriff im Beichtstuhl holt.

Scheinheiligkeit und Gegenaufklärung wurden zu Staatsbürgertugenden.

Auf der anderen Seite der Elbe entstand die Gegengesellschaft. Im Anspruch und im Selbstverständnis Einlösung der demokratischen Tradition in Deutschland. Das Exil jedenfalls kehrte dorthin zurück. Zumindest die seit 1525 überfällige Bodenreform wurde im Osten Deutschlands Wirklichkeit.

Insgesamt blieb die Tradition, für die Carl von Ossietzky stand und steht, ausgebürgert. Aber ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß der neue Nationalfeiertag der Berliner Republik mit Ossī Geburtstag zusammenfällt zu einem Brennpunkt der Forderung, Frieden und Demokratie in die politische Kultur Deutschlands einzubürgern. Mit Carl von Ossietzkys Maxime ist der gesamte Traditionsbestand der Demokratie in Deutschland angerufen:

Verteidigung der republikanischen Institutionen,

Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten,

unbedingtes Bekenntnis zum sozialen Fortschritt.

Bordien, Hans Peter


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