Logo Geheim 2/1998

Grundrechte-Report 1998

Der nachstehende Aufsatz Rolf Gössners ist die Langfassung seines Beitrags zum »Grundrechte-Report 1998. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland«, hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr und Maren Pelzer, Rowohlt aktuell, Reinbek bei Hamburg, 1998.

Dieser Grundrechte-Report, in diesem Jahr zum zweiten Mal vorgelegt und als Ort jährlicher Berichterstattung geplant, versteht sich als alternativer Verfassungsschutzbericht insofern, als er die Verfassung nicht in erster Linie durch die Bürger, sondern die Bürger- und Menschenrechte durch staatliches Handeln bedroht sieht.

An Publikationen zu dem Thema Bürger- und Menschenrechte scheint kein Mangel, betrachtet man beispielsweise die Produktionen von amnesty international, der Humanistischen Union oder des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Auch der Münchener Verlag Beck z.B. hat im vergangenen Jahr in seiner »Beck'schen Reihe« (BsR) einen Band über »Die Menschenrechte in Deutschland. Geschichte und Gegenwart'', vorgelegt, hrsg. von Franz-Josef Hutter und Carsten Tessmer.

Diese Initiative hat dennoch besondere Bedeutung, weil hier zum einen ein so breites Spektrum an Verteidigern der Bürger- und Menschenrechte wie nirgendwo sonst versammelt ist, von - wenn man so will - liberalen Politikern der F.D.P. wie Burkhard Hirsch bis hin zu marxistischen Sozialphilosophen wie Hermann Klenner, und weil diese Initiative zum andern offenbar bis weit ins staatliche Establishment hinein Akzeptanz findet - den ersten Bericht im vergangenen Jahr stellte Heiner Geißler vor, immerhin ein stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, den diesjährigen Bericht die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach.

Das deutet gleichzeitig aber auch auf eine darin liegende Gefahr: Der Schutz der individuellen Bürger- und Menschenrechte gegen den Staat schützt in unserer Lage gleichermaßen eine gespaltene Gesellschaft, in der ein großer Teil der Mitglieder von den Bürger- und Menschenrechten ausgeschlossen ist. Zur Erinnerung: Mit der Proklamation der Menschenrechte in der Französischen Revolution ging das Zensuswahlrecht einher, die Bindung der Bürgerrechte an die Höhe des Eigentums, und - das Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791, das unter Berufung auf die Menschenrechte die Vereinigung wirtschaftlicher Interessen unter Strafe stellte, nach Lage der Dinge die Vereinigung der Schwachen gegen die Starken - die Tradition des Neoliberalismus: »Bereichert Euch!«

Es liegt damals wie heute auf der Hand, daß die Verabsolutierung der bürgerlichen individuellen Menschenrechte als Eigentümerrechte, die sehr wohl der Durchsetzung der Interessen des bürgerlichen Individuums und seiner Klasse gegen die feudale Machtbehauptung dienten, die große Masse der nichtbürgerlichen Bevölkerung von der Erfüllung ihrer eigenen Menschenrechte fernhält - in der modernen Diktion: von der Durchsetzung der sozialen Menschenrechte; konkret in den deutlichsten Beispielen: von der Durchsetzung der »unantastbaren Menschenwürde« (Art. 1 GG) im Betrieb, wo die Beschäftigten nach wie vor der entwürdigenden Hierarchie der Werte und Präponderanz der Eigentümerrechte unterliegen, der Durchsetzung des Rechts auf Arbeit über die »freie Wahl des Arbeitsplatzes« (Art. 12 GG) hinaus, der Durchsetzung des Rechts auf eine angemessene Wohnung über die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) hinaus, was auch den inzwischen datenschutzrechtlich fragwürdigen wie generell entwürdigenden Ritualen der privaten Wohnungseigentümer gegenüber Wohnungssuchenden ein Ende machen würde usw.

In Ansätzen thematisiert der Grundrechte-Report 1998 diesen Aspekt der Menschenrechte - aber nicht so, wie es ihm seiner gesellschaftlichen Bedeutung gemäß zukäme: inhaltlich und systematisch dominierend.

Aber das Feld scheint offen für Einmischung. Immerhin sind auch schon drei spezifisch ostdeutsche Problemlagen aufgenommen (Berufsverbote in Ostdeutschland, Rückwirkungsverbot und die deutsche Vereinigung und Ungleichwertige Verhältnisse zwischen Ost und West) und ist ein ostdeutscher Autor vertreten, eben der obengenannte Sozialphilosoph Hermann Klenner. Der hat sich vor dem Hintergrund der Unterprivilegierung Ostdeutschlands den Art. 72 GG vorgenommen: ». die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet.«- Dazu eine Anmerkung: Sollte dem Autor entgangen sein, daß der Ungleichheit zwischen Ost und West mit der Grundgesetzänderung von 1994 Verfassungsrang verliehen wurde? Bis dahin wurde in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 von der »Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« in den Ländern der Bundesrepublik gesprochen. Die Ersetzung von »Wahrung« durch »Herstellung« ließe sich über ihre Bedeutung als implizite Angleichung des Grundgesetzes an die real unterprivilegierte Lage Ostdeutschlands hinaus als Auftrag auffassen, wenn nicht die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« ebenfalls geschrumpft wäre auf »gleichwertige Lebensverhältnisse«. Das Ganze liest sich nach der Verfassungsänderung wie die verfassungsrechtliche Absicherung des inzwischen europaweiten »Mezzogiorno-Problems«, der Abkopplung strukturschwacher Gebiete. Nach dem lean management und der lean administration jetzt der lean regionalism.

Summa summarum: Mit dem Grundrechte-Report ist unter Beachtung der angeführten Einschränkungen Aufmerksamkeit zu widmen und an den angeführten systematischen Schwachstellen zuzuarbeiten - um das Gewicht der Menschenrechte gegenüber dem der Bourgeois- und Citoyen-Rechte zu erhöhen.


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