Logo Geheim 1/1998

Meisterwerk der Täuschung oder: Das Grauen und der schöne Schein
Spurensicherung: Zwischen Knast und Kunsttempel

»Das Bremer Abschiebegefängnis in der Ostertorwache ist gestern durch einen Brand verwüstet worden. Gegen 14 Uhr 40 hatte ein 18jähriger Abschiebehäftling in seiner Zelle eine Matraze und Decken angezündet.« Diese Meldung war am 27. Januar 1996 im Bremer Lokalteil der »Tageszeitung« zu lesen. Meterhohe Flammen schlugen vor etwas mehr als zwei Jahren aus der Ostertorwache, die damals u.a. mit 14 weiteren Abschiebehäftlingen besetzt war. Der Ostertorsteinweg war stundenlang für den Verkehr gesperrt.

Der 18jährige Kurde in Zelle 20 hatte das Feuer aus Verzweiflung gelegt, um seiner unmittelbar drohenden Abschiebung in die Türkei zu entgehen. Er kam mit einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Doch seiner Abschiebung konnte er dadurch nicht entkommen; sie wurde lediglich aufgeschoben. Es war nicht der erste Brand, den verzweifelte Abschiebehäftlinge in der Ostertorwache gelegt hatten und bei dem einige von ihnen zum Teil schwer verletzt wurden. Doch dieses Mal wurde das Gebäude so stark beschädigt, daß es kaum noch benutzt werden konnte. Die im Februar 1828 fertiggestellte Ostertorwache ist eine Bremensie; das mittlerweile genau 170 Jahre alte Bauwerk ist den meisten Bremern wohlbekannt. Man schlendert oder hetzt an ihm vorbei auf dem Weg vom Ostertor-Viertel in die Altstadt und umgekehrt. Es befindet sich zwischen Goethe-Theater und Kunsthalle, gegenüber liegt das ähnlich konzipierte Gerhard-Marcks-Haus, das längst der bildenden Kunst gewidmet ist. Hinter der Ostertorwache verläuft der Wallgraben in einer parkähnlichen Anlage. Insgesamt eigentlich ein kunstvolles, ein erholsames, ein angenehmes Ensemble - sollte man meinen.

Doch hinter der weißgetünchten klassizistischen Fassade mit ihren sechs dorischen Säulen verbarg sich statt Kunst und Erholung das Grauen und menschliches Leid. Fast zwei Jahrhunderte lang. Das denkmalgeschützte Gebäude ist ein Meisterwerk der Täuschung - im Gegensatz zu der sonstigen Imponier- und Abschreckungsarchitektur von Gefängnissen, des Bremer Polizeihauses und Landgerichts offenbar hier eine gewollte architektonische Mimikry: Der an öffentlichen Spaziermeilen gelegene Bau sollte keinen Anstoß erregen, sollte harmloser aussehen als er tatsächlich war. In der Neuzeit gaben lediglich Farbspuren des Protests, immer wieder Gefangenentransporte und polizeiliches Blaulicht Hinweise auf die wahre Bestimmung des Bauwerks; ab und an kleine Protestdemonstrationen, manchesmal Flammen und dunkler Qualm der Verzweiflung ließen den aufmerksamen Zeitgenossen die besondere Tragik erahnen, die sich hinter der Verdeckungsarchitektur abspielte.

Dem Geheimnis dieses Gebäudes mitten im städtischen Leben, das nur wenige Bremer von Innen kennen, wollten zwei Fotografen auf die Spur kommen. Sie wollten Spuren sichern in einer Zeit, in der die Ostertorwache umgewidmet werden soll: vom Knast in ein Zentrum für Design und Produktgestaltung. Wenn man Design und Produktgestaltung als die Gestaltung eines vielversprechenden Äußeren, einer freundlichen Fassade oder als den trügerischen Schein einer Sache versteht, die ganz anderes, vielleicht Unmenschliches verkörpert oder enthält, so war die Ostertorwache seit ihrem Bestehen ein Musterbeispiel für gelungenes Design. Künftig also soll hinter dieser Fassade auch kreatives Design entstehen. Deshalb tut Spurensicherung auch not - zumal in einer Zeit, in der das Design vielfach das Bewußtsein bestimmt, mehr noch als das Sein und weit mehr als das Gewesensein.

Die Spurensucher und Spurensicherer sind die Fotografen Klaus Schiesewitz und Marc Binder. Schiesewitz will mit seinen Fotos »die Unmenschlichkeit dieses ehemaligen Kerkers mitten in Bremen« fotografisch dokumentieren.

Binder faszinierte der »Schwebezustand« der Ostertorwache »zwischen Knast- und Kunsttempel«. »Nachdem ich die Wache die ersten Male fühlen, riechen und schmecken konnte - Erbrochenes, Urin, Dunkelheit, Feuchtigkeit, Trostlosigkeit und Verfall«, erzählt Binder, »stellte sich mir neben der ästhetischen auch die politische Frage dieses Ortes: Wie »zivilisiert« mag eine Gesellschaft sein, so fragte er sich, die solche Gebäude zum Wegschließen von Randgruppen nutzt.

In der Ostertorwache wurde in erster Linie Untersuchungs- und Strafhaft vollzogen, aber auch sog. Zivilgefangene befanden sich in Ordnungs- oder Erzwingungshaft. Mit den Jahren diente die Anstalt aber mehr und mehr der polizeilichen Verwahrung eines Subproletariats aus Vagabunden, Bettlern, Prostituierten und anderen Personen »aus der Gosse«, die mit »Krätze, Haarkrankheiten, Ungeziefer« jede Nacht eingeliefert würden, wie es einer der Vorsteher 1919 ausdrückte. Die Haftbedingungen in der Anstalt waren im Laufe der Jahrzehnte recht unterschiedlich - zum einen geprägt von Reformideen, die in dem »Verbrecher noch den Menschen ehren«, wie es damals hieß, auf der anderen Seite aber auch geprägt von Isolationshaftbedingungen, unhaltbaren Zuständen und Überfüllung. Zeitweise vegetierten in den Zellen weit über 100 Insassen, ja mitunter über 200. Hölzerne Sichtblenden vor den Fenstern behinderten nicht nur Licht und Sicht, sondern auch die Zufuhr frischer Luft. Unter den ersten Insassen der Ostertorwache befand sich die Bremer Giftmörderin Gesche Gottfried (von 1828 bis zu ihrer Hinrichtung 1831), seit der Kaiserzeit kamen zahlreiche Politische Gefangene dazu - die letzten Insassen waren Abschiebehäftlinge, die nichts verbrochen haben, außer in Deutschland unerwünscht zu sein.

Die Ostertorwache war jedoch nicht nur Torwache, Gefängnis und Polizeigewahrsam, sondern von März 1933 bis März 1945 auch »Schutzhaft«-Anstalt und Folterkeller der Bremer Gestapo. Im Jahre 1941 waren in 44 Zellen über 150 Gefangene untergebracht. Dort wurden Menschen inhaftiert und auch gefoltert, die wegen ihres politischen Widerstands gegen das NS-Regime von Gestapo und NS-Justiz verfolgt wurden. Zu den ehemaligen Gestapo-Häftlingen gehörten auch Väter von prominenten Bremern sowie der heute weit über 80jährige Georg Gumbert. Er berichtet, daß die Ostertorwache in jener Zeit »Teil eines Transportsystems« gewesen sei, »das der Durchschleusung von NS-Verfolgten aus allen von den Nazis okkupierten Ländern Europas« gedient habe: »Von hier aus gingen die Transporte in die Vernichtungs-KZ-Lager oder zu den Schafotten in Berlin und Hamburg«.

Nach dem Krieg sollte die Ostertorwache als Gefängnisanstalt aufgelöst werden. Doch sie blieb, was sie von Anfang an war - nun mit dem Schwerpunkt des Polizeigewahrsams, unter anderen gegen Drogenabhängige. In ihren Räumen verabreichte die Polizei festgenommenen mutmaßlichen Drogen(klein-)dealern zwangsweise sog. Brechmittel. Diese oft qualvolle Prozedur, bei der den Verdächtigten entsprechende Medikamente oder Brechsirup entweder über eine Nasen-Magensonde verabreicht oder gespritzt wird, dient der polizeilichen Beweissicherung - sie soll eventuell verschluckte Drogenpäckchen durch Erbrechen wieder zutage fördern. Die eingesetzten Medikamente gelten als gesundheitsgefährdend und führen nicht selten zu erheblichen gesundheitlichen Komplikationen.

In jüngerer Zeit diente die Ostertorwache vorwiegend als Abschiebehaftanstalt. Die Häftlinge saßen bisweilen monatelang ohne sozialarbeiterische oder psychologische Betreuung in Gewahrsam. Mindestens vier Menschen hatten im letzten Jahr vor dem großen Brand versucht, sich in der Ostertorwache das Leben zu nehmen. Die psychischen Belastungen in der Extrem-Situation der Abschiebehaft und die Angst vor der drohenden Abschiebung sind groß und führen nicht selten zu Verzweiflungstaten - zu Hungerstreik, Suizidversuchen und Selbsttötungen.

Die Haftbedingungen für die prinzipiell unschuldigen Betroffenen sind nicht selten schlechter als im (normalen) Strafvollzug, teilweise sind sie katastrophal. Die Betroffenen werden wie Kriminelle behandelt, zumeist aber erheblich schlechter. Sie haben keinen Anspruch auf psychosoziale Betreuung und noch nicht einmal der Mindeststandard ihrer Unterbringung ist gesetzlich geregelt. Die Gefängniszellen sind oft überfüllt. Die Abschiebehaftzellen der Ostertorwache waren nur 17 Quadratmeter groß; bis zu sechs Menschen wurden hier zeitweise zusammengepfercht; als einzige Belüftungsmöglichkeit diente ein Glasbaustein zum Kippen, Fenster gab es keine. Die Mahlzeiten wurden in einem Gemeinschaftsraum neben der Toilette eingenommen, die nur durch eine schmale Blechwand abgeteilt war.

Die Ostertorwache blieb eine skandalöse Einrichtung: Anläßlich einer Begehung Anfang 1992 stellte das Hauptgesundheitsamt fest, daß rasche Konsequenzen aus dem negativen Befund gezogen werden müßten, »da in der Ostertorwache Grundbedingungen für Menschenwürde und Gesundheit der Gefangenen nicht eingehalten werden können«. Auch das Bremer Landgericht hat nach einer Ortsbesichtigung im August 1994 die Zustände in der Ostertorwache als »menschen-unwürdig« gegeißelt.

Nach über 170 Jahren Gefängnis, Gestapo-«Schutzhaft«, Folterkeller, Polizeigewahrsam und Abschiebeknast sollte die Ostertorwache, so die Vorstellung geschichtsbewußter Bürger dieser Stadt, zu einer Gedenkstätte umgestaltet werden, in der insbesondere der Opfer und Verfolgten der Nazi-Herrschaft gedacht werden sollte. Doch die Stadt entschied sich angesichts der Finanznot für zahlungskräftige Nutzer: für die Wilhelm-Wagenfeld-Stiftung, das Bremer Design-Zentrum und die Gesellschaft für Produktgestaltung. Die inzwischen frisch herausgeputze Ostertorwache wird in wenigen Monaten als »Wilhelm-Wagenfeld-Haus« wiedereröffnet werden und dann auch den Nachlaß des Bremer Industriedesigners Wagenfeld (1900-1990) beherbergen.

Nur ein Teil des Zellentraktes - insgesamt fünf Zellen - konnte für die Vereine »Gedenkstätte Ostertorwache« und »Erinnern für die Zukunft« reserviert und im Originalzustand erhalten werden. Dieses Zugeständnis macht die Ostertorwache aber keinesfalls zu einer öffentlich zugänglichen Gedenkstätte - wie die Wagenfeld-Stiftung ausdrücklich betont. Insbesondere NS-Opfer und Verfolgtenverbände, wie etwa die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) sind darüber herb enttäuscht, daß die Bremer Landesregierung ihrer politisch-moralischen Verpflichtung, hier endlich eine würdige Opfer-Gedenkstätte zu schaffen, nicht nachgekommen ist. Das Gedenken findet künftig nur am Rande statt .

Eigentlich müßten wir ja erleichtert aufatmen können, daß wir in dieser »Freien Hansestadt« einen Schandfleck weniger haben, aufatmen, daß eine Einrichtung, in der über nahezu zwei Jahrhunderte viel menschliches Leid geschehen ist, endlich einem besseren Zwecke zugeführt wird. Doch das Auf- atmen müßte uns eigentlich im Halse steckenbleiben
- ansonsten säßen wir schon wieder einer Täuschung auf: Denn nach wie vor werden Menschen auf Grundlage eines verschärften und in Teilen unmenschlichen Ausländerrechts nur deshalb unter entwürdigenden Umständen inhaftiert, weil sie keine Deutschen sind und aus einer unerträglichen Situation in ihren Heimatländern fliehen mußten. Seit der Aushöhlung des Asylgrundrechts im Jahre 1993 hat sich die Situation für Asylbewerber drastisch zugespitzt. Für viele bedeutet die Abschiebung in ihre Herkunftsländer Hunger, Elend, Verfolgung, Folter und Tod. Nun wird ihre Abschiebehaft in anderen Räumlichkeiten vollzogen - aber diese Haft ist und bleibt inhuman, egal wo sie stattfindet: »Wir sitzen hier im Gefängnis«, so veranschaulicht ein Betroffener das Dilemma, »weil man uns nicht glaubt, daß uns in der Heimat Gefängnis droht!«. Abschiebehaft verletzt die Würde, die Integrität und das Leben von Menschen, die eigentlich besonders schutzbedürftig sind: Nach Überzeugung des langjährigen Gefängnispfarrers Hubertus Janssen stellt die Abschiebehaft einen »Skandal besonderer Art in der Asylpraxis« dar, ja sie sei »außergewöhnliches staatliches Unrecht«: Die Inhaftierung von Menschen, die Zuflucht suchen, ist jedenfalls nicht zu rechtfertigen.

Diese Gedanken sollten mit der heute eröffneten Fotoausstellung über die Ostertorwache wachgehalten werden - mit dem Anspruch, künftig genauer hinzuschauen, nachzufragen und gegen solche Quartiere der Inhumanität zu protestieren.

Bei diesem Text handelt es sich um die Rede, die der Autor zur Eröffnung der Fotoausstellung »Willkommen im Club« von Klaus Schiesewitz und Marc Binder am 6. Februar 1998 in der Bremer Villa Ichon gehalten hat (Projekt: Ostertorwache - Spurensicherung).

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und rechtspolitischer Berater bündnisgrüner Fraktionen auf Länder- und auf Bundesebene, Mitglied der GEHEIM-Redaktion. Autor zahlreicher Bücher zu Themen der sog. Inneren Sicherheit; zuletzt: »Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat«, (Hg., Nomos), Baden-Baden 1995; »Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle?« (mit Oliver Neß, Campus), Frankfurt/M. - New York 1996; »Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen - Abrechnung mit dem Osten?« (Aufbau), Berlin 1998.

Rolf Gössner


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