Logo Geheim 4/1997

Hobbes oder Spinoza?
Für eine Politik der Hoffnung, in der die Angst ersäuft

Die Gesellschaft, in der wir leben und von der wir reden, ist geprägt durch das Grundrecht des Wirtschaftsbürgers auf Regelverletzung (Andreas Zielcke) und durch fugenlosen gesetzlichen Festungsschutz für Privateigentum und Besitz (Horst Herold). Beides zusammen ergibt die gegenwärtige vorparadiesische Gemeinschaft von Wölfen und Schafen, in der sich die Wirtschaftsbürger gegenseitig und den Schafen gegenüber gemeinsam Wolf sind, die Schafe gegenüber den Wölfen weiterhin Schaf sind und untereinander - so gut es geht - Schafe im Wolfspelz.

Das Thema »Innere Sicherheit« steht in dieser Schafs- und Wolfsgesellschaft hinter der Arbeitslosigkeit als Synonym für soziale Unsicherheit an zweiter Stelle der öffentlichen Debatte. Keine Zeitung, die auf sich hält, von ZEIT bis BILD, hat es versäumt, eine Serie zu dem Thema Bedrohung durch Kriminalität aufzulegen. Politik und willigen Medien ist es gelungen, eine bestimmte Form der Massenkriminalität im Gefühl der Bevölkerung in den Rang eines lebensweltlichen Risikos zu heben, rangierend neben oder sogar vor den sozialen Risiken für das persönliche Eigentum (Arbeitsplatz, Wohnung, Erspartes und Geldbörse) durch Wirtschaftsprozeß und Wirtschaftskriminalität, dem Risiko für das Leben und die Gesundheit durch die alltägliche industrielle Zerstörung der Lebensgrundlagen (einschließlich den massenhaften Gebrauch der Motorfahrzeuge mit allen Folgen), durch Arbeitsbedingungen, Abbau der Präventivmedizin (vgl. das Drama der Schadstoffliste in der IGCHPK), durch die Zerstörung des Gesundheitssystems, durch den industriellen Zugriff auf Anfang und Ende des menschlichen Lebens, durch Umweltkriminalität gegen Luft, Wasser und Nahrungsmittel oder eine aus ihrem Gründungszusammenhang rechtsautoritäre Bundeswehr etc. etc. etc. Diese Gefahren bringt die Angstkampagne samt und sonders außer Ansatz.

Es ergibt sich sogar eine Veränderung im Menschenbild. Dem Bürger als Sicherheitsrisiko folgt der Nachbar als Feind. »Der Nächste« ist der, der am meisten schaden kann. Induziert und unterstützt durch die allgegenwärtige Spuckzettel-Propaganda »Ich rate Dir, schließ' zu die Tür! Deine Polizei!« (»Wir kommen auch durch die geschlossene Tür! Deine Polizei!«) oder »Achten Sie auf Ihr Gepäck und Ihre Wertgegenstände! Die Taschendiebe sind unterwegs! Ihre Kölner Verkehrsbetriebe!« (»Den Fahrpreis entnehmen Sie bitte der Anzeige auf dem Display des Fahrkartenautomaten! Ihre KVB«) usw. Die Leute haben Angst.

Es ist in der Kriminalitätsdebatte wahrlich alles gesagt, nicht hier und jetzt, aber im Verlaufe der letzten Jahre. Alle Sachverhalte sind genannt, alle Argumente vorgetragen, jede Kritik ist formuliert, keiner soll mehr originell sein wollen - es ist die Zeit der Asche auf der Zunge.

Jetzt ist eine Richtungsentscheidung gefordert, für die es im Prinzip zwei Möglichkeiten gibt - in Denktraditionen ausgedrückt: Hobbes oder Spinoza. Keiner von beiden war naiv, beide gingen realistisch von einem regulierungsbedürftigen Zustand der Gesellschaft aus. Aber während in der Perspektive des einen eines unterstellten egoistischen Individualismus wegen gesellschaftliche und individuelle Freiheit prinzipiell nicht sein kann, ist in der Sicht des anderen zwar der undurchschaubaren Leidenschaften wegen die prinzipiell erreichbare Freiheit noch nicht, liegt aber in Reichweite einer Gesellschaft, die sich im Staat nur den Rahmen schafft zur vernünftigen Kanalisierung des Privatinteresses und der Einsicht in die Notwendigkeit; in Politikmodellen ausgedrückt: starker Staat gegen die Angst oder starke Persönlichkeit in der zivilen Gesellschaft.

Jede Richtungsentscheidung findet ihre Bündnispartner, wobei die Konfliktlinie nicht notwendig zwischen den Wunschkoalitionen verlaufen muß und schon gar nicht identisch ist mit den Parteigrenzen. Im Gegenteil: Es liegt im Wesen der Volkspartei wie des Christentums und anderer Religionsgemeinschaften, daß in ihnen beide Richtungen enthalten sind.

Die Richtungsentscheidung strukturiert die Sachverhalte und die Argumente, und es zeigt sich, daß selbst auf den ersten Blick ähnliche Elemente je nach Art des Zusammenhangs gegensätzlichen Charakter annehmen: So vergesellschaften z.B. die »aktiven Nachbarschaftsbeziehungen«, die Schäuble als wirksames Gegenmittel zur Alltagskriminalität empfiehlt, vor dem Hintergrund der militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Aufrüstung nur die stigmatisierende, ausgrenzende, denunziatorische, in einem Wort antiliberale Atmosphäre gegenüber denen, auf die das gängige Vorurteil gerade zeigt (wahlweise Juden, Zigeuner, Bolschewiken, Ausländer, Jugendliche ...), tendieren also zum Blockwartsystem, wohingegen z.B. die Pflege und Modernisierung der überlieferten gelebten Nachbarschaftshilfe eine Sicherheit bieten kann, die (gast-)freundliche Offenheit in einer zivilen Gesellschaft erlaubt.

Soviel zu Spontaneität und Kurzsichtigkeit bei der Richtungsentscheidung und der Sichtung der potentiellen Bündnispartner - Cross-over ist nicht gleich Cross-Voting.

Die Kriminalitätsangst und die Flucht in die Obhut der Obrigkeit, die Selbstentmächtigung, sind wesentliche Hindernisse für den Gestaltungswillen und die Gestaltungsmächtigkeit des Einzelnen. Ihre gesellschaftliche Implantierung erweist sich als gelungene Falsifizierung von Massenbewußtsein. Sie wirkt als Formierungsinstrument von oben gegen eine aktuell und strukturell zutiefst verunsicherte und potentiell desintegrierte Bevölkerung, im Mechanismus ähnlich den Integrationsinstrumenten »Antisemitismus« in Deutschland und Frankreich der 30er und 40er Jahre, dem analogen »Anti-Freimaurertum« in Spanien, der »Aids-Seuche« und der »Ausländerfeindlichkeit« in der Bundesrepublik der 80er Jahre usw.

Die Psychologie kennt dieses Phänomen und nennt es »Verschiebung«. Die Kriminalitätsangst als sozialpathologische Erscheinung ist folglich ein eminent praktisches Problem alltäglichen demokratischen Handelns und kann als Demokratie tendenziell zerstörendes Ferment gar nicht ernst genug genommen werden.

Erste Voraussetzung erfolgversprechender Reaktion demokratischer Politik ist, dem »Affen keinen Zucker zu geben«, also weder den Ängstlichen anzugreifen noch seine Angst zu rechtfertigen. Die Plausibilität der zweiten Bedingung wird deutlich aus einer analogen Formulierung: »In Deutschland haben immer mehr Menschen Angst vor dem

Juden/Kommunisten. Diese Sorge um persönliche Sicherheit und Schutz vor den jüdisch/kommunistischen Angriffen nimmt die xy-Partei ernst.« -

Kriminalitätsangst ist also zu bearbeiten im Wissen um ihren relativen Realitätsgehalt, als Produkt eines Falsifikationsprozesses von oben, als Phänomen einer »Verschiebung«.

Für eine Bevölkerung, die ihre massive Verunsicherung und Unsicherheit an die Vorstellung einer Gefährdung durch eine diffus dargestellte unaussprechliche Kriminalität bindet und das Angebot des Starken Staates anzunehmen gewillt ist, kann die demokratische Alternative zur Rückgewinnung von Sicherheit und der Entwicklung einer »kämpferischen Persönlichkeit« einzig das Angebot der Unterstützung staatsferner, also tatsächlicher sozialer Gemeinschaftlichkeit sein, die tendenziell alle Risiken bearbeitet und umfaßt, u.a. auch das tatsächliche Kriminalitätsrisiko.

Eine solche Entwicklung, in deren »Hoffnung die Angst ersäuft« (Ernst Bloch), hat ihren Fluchtpunkt in einer Gesellschaft, in der die freie Entwicklung des einzelnen Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist, oder, wie Spinoza gegen Hobbes polemisierte, in der der einzelne sein natürliches Recht, zu sein und zu wirken, ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Ob das mit den gegenwärtigen Parteien zu machen ist? Das darf bezweifelt werden. Um so heftiger seien die Weltbühne-Nachfolgerinnen begrüßt, aber - geht's auch mit einer?


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