Logo Geheim 4/1997

Texte zur Strategiediskussion (21)
Von jenen, die die Laster, die allen Sterblichen innewohnen, auf das niedere Volk alleine beschränken ...

(... die da sagen:) Beim niederen Volk gäbe es kein Maßhalten; schrecklich sei es, wenn es sich nicht fürchtet; es krieche, wenn es beherrscht wird, und sei arrogant, wenn es herrscht; Wahrheit oder Urteilskraft seien ihm fremd, usw.

Aber die Natur ist nur eine und allen Menschen gemeinsam. Was uns irreleitet, sind Macht und Bildung. Deshalb sagen wir oft, wenn zwei das gleiche tun, dürfe der eine es ungestraft tun, der andere aber nicht; nicht weil die Handlung verschieden wäre, sagen wir es, sondern weil ihr Urheber es ist. Den Herrschenden ist der Hochmut eigen. Hochmütig sind die Menschen, wenn sie für ein Jahr einen Posten bekleiden; wie mag es dann mit den Adligen bestellt sein, die ihre Ehrenstellen für immer besitzen! Ihre Arroganz wird freilich durch Prahlerei, Luxus und Verschwendung, durch einen gewissen Stil ihrer Laster, durch brillante Stupidität und elegante Verderbtheit so geschmückt, daß ihre Laster, die, einzeln und isoliert betrachtet, offensichtlich schändlich und liederlich sind, in den Augen der Unerfahrenen und Unwissenden einen Schein des Noblen und Feinen haben. Ferner: Das gemeine Volk kennt kein Maßhalten und ist schrecklich, wenn es nichts fürchtet; allerdings, Freiheit und Knechtschaft gesellen sich nicht leicht zueinander. Daß schließlich nicht Wahrheit und Urteilskraft bei dem Pöbel zu finden sind, darüber darf man sich nicht wundern, wenn die wichtigsten Angelegenheiten des Staates ohne dessen Wissen erledigt werden und es nur aus dem wenigen, was sich nicht verheimlichen läßt, seine Schlüsse zieht. Sein Urteil zurückzuhalten, ist in der Tat eine seltene Tugend. Zu wollen, daß man alles ohne Wissen der Bürger erledige und diese gleichwohl nicht verkehrte Urteile darüber fällen und alles ungünstig auslegen, ist die größte Torheit. Denn könnte der Pöbel sich mäßigen, also über das zu wenig Bekannte sein Urteil zurückhalten oder auf der Basis einer geringen Information über Sachverhalte ein richtiges Urteil fällen, dann verdiente er wahrlich, eher zu regieren als regiert zu werden. Aber, wie gesagt, die Natur ist bei allen Menschen dieselbe: Alle sind arrogant, wenn sie herrschen; sie sind schrecklich, wenn sie nichts fürchten, und überall wird die Wahrheit am meisten verfälscht von den Verbitterten oder Unterwürfigen, vor allem da, wo einer allein oder einige wenige herrschen, die in Prozessen nicht auf Recht oder Wahrheit achten, sondern auf die Größe des Vermögens.

(aus: Baruch de Spinoza, Tractatus politicus, Politischer Traktat (1675), VII, 27, nach: Spinoza, Politischer Traktat, neu übersetzt und hrsg. von W. Bartuschat, Sämtliche Werke, Band 5.2, Felix Meiner Hamburg 1995, S. 125f )


Der Zweck des Staates ist die Freiheit

Der letzte Zweck des Staates ist nicht zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, daß ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, daß sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und daß sie nicht mit Zorn, Haß und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.

(aus: Baruch de Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus, Theologisch-politischer Traktat (1670), 20. Kapitel, nach: Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, neu bearbeitet und hrsg. von G. Gawlik, Sämtliche Werke, Band 3, Felix Meiner Hamburg 1994, S. 301)


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