Logo Geheim 3/1997

Halim-Dener-Prozeß (Teil II) Streß, Schuß, Freispruch ...
Anmerkungen zu einem polizeilichen Todesschuß und seiner gerichtlichen«Bewältigung«

Wir setzen den in »Geheim« 2/97 begonnenen Bericht über das Strafverfahren gegen den SEK-Polizeibeamten Klaus T., die skandalösen Ermittlungsfehler und die denkwürdigen Begleiterscheinungen dieses Prozesses mit den Notizen und kritischen Anmerkungen fort, die Rolf Gössner unmittelbar nach Urteilsverkündung gefertigt hat. Gössner (Bremen) vertrat zusammen mit RA Hans-Eberhard Schultz (Bremen) die in Türkisch-Kurdistan lebenden Eltern und die beiden Geschwister des erschossenen Jugendlichen Halim Dener (16) als Nebenkläger.

»Man mußte den Eindruck haben, es sei ein Polizist umgekommen« (Neue Presse 28.6.1997).

Am 27. Juni 1997 hat die 3. Strafkammer des Landgerichts Hannover den wegen fahrlässiger Tötung angeklagten SEK-Polizeibeamten Klaus T. freigesprochen. Das Gericht folgte der »glaubhaften und nachvollziehbaren Einlassung« des Angeklagten und damit jener Version, die bei der Tötung des kurdischen Jugendlichen Halim Dener durch einen Schuß aus dem Dienstrevolver von einem Unglücksfall ausgeht. Danach sei dem Angeklagten im Juni 1994 beim Versuch der Festnahme des späteren Opfers und während eines anschließenden »Gerangels« der Revolver aus dem Holster gefallen. Der Schuß habe sich beim Zurückführen der Waffe und Losreißen des Flüchtenden unbeabsichtigt gelöst - wobei Halim Dener aus einer Entfernung von ca. 10 cm in den Rücken getroffen wurde und wenig später verblutete. Der 16jährige hatte Plakate für eine PKKnahe Organisation geklebt, die in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt ist.

Vorsicht: Gestreßter, überforderter SEK-Polizist im Einsatz!

Das Gericht billigte dem Angeklagten zu, daß er in dieser Streß-Situation, in der er einen unbewaffneten 16jährigen Plakatekleber festhalten und gleichzeitig seine aus dem Holster gefallene Waffe holstern wollte, »deutlich überfordert« gewesen sei. Der Angeklagte habe den Schuß unter Streß in einer außergewöhnlichen Situation unabsichtlich abgegeben. Bloße Unvorsichtigkeit sei keine Fahrlässigkeit. Auch nicht jede gefährliche Handlung rechtfertige schon den Fahrlässigkeitsvorwurf. Die Situation sei so zugespitzt gewesen, »daß auch ein ausgebildeter SEK-Beamter sie nicht in den Griff bekommt«, urteilte das Gericht über die speziellen »Fähigkeiten« der besonders geschulten und streßgestählten Polizisten des Spezialeinsatzkommandos. Die Grundlage für diese Argumentation lieferte das Gutachten eines für das SEK tätigen Unfallforschers und Sachverständigen für Sensomotorik - obwohl ein Schußwaffensachverständiger auf Grundlage eines Experiments eine unwillkürliche Schußabgabe unter solchen Umständen nach menschlichem Ermessen für ausgeschlossen hält. Immerhin muß zur Schußabgabe ein hoher, kraftaufwendiger Abzugswiderstand von 4,3 kg überwunden werden, um einen Schuß aus dem nicht vorgespannten Revolver auszulösen. Auf welche Weise der Angeklagte die Waffe aufgenommen hatte und die Schußabgabe tatsächlich erfolgte, habe im Verfahren nicht geklärt werden können, so das Gericht.

»Die Urteilsbegründung läßt die Polizei... in einem merkwürdigen Licht erscheinen«, konstatierte die »Hannoversche Allgemeine Zeitung« in einem Kommentar: »Wenn SEK-Beamte mit der Verfolgung eines unbewaffneten 16jährigen hoffnungslos überfordert sind, wenn es nach Zeugenaussagen vorkommen kann, beim Laufen den Revolver zu verlieren, dann sollte der Bürger künftig in Deckung gehen, wenn die angeblich so hochqualifizierten Spezialeinsatzkommandos unterwegs sind« (HAZ vom 28.06.1997).

Zu den Bedingungen des polizeilichen Todesschusses

Nach Auffassung des Gerichts rechtfertige keine andere Beurteilung des Falles der Umstand, daß der Angeklagte nach dem Geschehen zunächst zu seiner Dienststelle gebracht wurde, dort noch einige Zeit verbrachte und sich vor der Spurensicherung die Hände wusch sowie Gespräche mit seinen Vorgesetzten führte, bevor seine Vernehmung bei der Kriminalpolizei begann (vgl. Teil I in »Geheim« 2/1997). Es sei auszuschließen, daß dies geschehen sei, um Einfluß auf die Angaben des Angeklagten zum Tatgeschehen zu nehmen, stellte das Gericht ohne weitere Begründung fest. Zum besseren Verständnis des tödlichen Ereignisses und seiner »Bewältigung« werden im folgenden einige für die Todesschuß-Situation zentrale Punkte behandelt. In diesem Zusammenhang soll auch der Versuch unternommen werden, die - nach wie vor offenen - Fragen nach der Verantwortlichkeit und den Konsequenzen zu beantworten:

Das Holster und die Version mit der herausgefallenen Waffe

Das vorgeformte Holster - Modell »Sheriff« B 32-52 der Fa. Buchheimer (USA) mit integrierter Klemmfeder - umhüllt den Revolver bis auf den Griff und die Unterseite des Abzugsbügels; ein Sicherheitsriemen oder eine Schlaufe, mit der die Waffe zusätzlich fixiert werden kann, ist nicht vorhanden. Das Holster umschließt die Waffe relativ fest und verhindert normalerweise ein ungewolltes Herausfallen - auch beim Laufen. Die Darstellung des Angeklagten, die Waffe sei ihm wohl bei dem Gerangel aus dem Holster gefallen, wirft nicht nur bezüglich des Gerangels Fragen auf: Denn sollte diese Schilderung, wie das Gericht annimmt, tatsächlich zutreffen, dann ist das Holster für den täglichen Streifendienst möglicherweise nicht sicher genug. Das Holster des Modells »Sheriff 32« ist kein allgemein in der niedersächsischen Polizei verwendetes Modell, sondern es sei speziell für das SEK zum Zweck der verdeckten Trageweise des Revolvers beschafft worden, so das Innenministerium in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage, was allerdings von den SEK-Dienstvorgesetzten bestritten wird. Das Fehlen einer zusätzlichen Sicherheitsvorrichtung soll ein schnelles Ziehen der Waffe ermöglichen. Geht hier womöglich Schnelligkeit vor Sicherheit?

Untermauert wird die Annahme, daß es sich bei dem Holster um ein Sicherheitsproblem handeln könnte, durch die Aussage des Angeklagten, aber auch seines Kollegen Axel Sch., die Waffe sei schon öfter beim Laufen allein aufgrund der Erschütterung aus dem Holster gefallen; auch andere SEK-Beamte hätten diese Erfahrung sowohl im Einsatz als auch bei der Fortbildung, insbesondere im Verlaufe von körperlichen Auseinandersetzungen, machen müssen. Dies war auch dem Dienststellenleiter des SEK bekannt. Nur das aufsichtführende Innenministerium will hiervon nichts gewußt haben. Es steht also die Frage im Raum, weshalb solche Holster aufgrund dieser Erfahrungen nicht längst aus dem Verkehr gezogen, zumindest aber ihre Verwendung für den normalen Streifendienst untersagt worden ist. Aber es gibt keine Konsequenzen. Oder glaubten die Vorgesetzten selbst nicht an die Version des Angeklagten?

Die Tatwaffe und die Version der unbeabsichtigten Schußabgabe

Halim Dener wurde mit einem Smith & Wesson-(Trommel)- Revolver, Modell 19-5, Kaliber .357 Magnum, erschossen. Die SEK-Angehörigen können sich die Art ihrer Handfeuerwaffen - ob Revolver oder Pistole - selbst aussuchen. Diese Tatsache bringt Probleme mit sich: Im Verfahren hat sich herausgestellt, daß der Angeklagte nur wenig mit dem Revolver trainiert hat, sondern häufiger mit seiner Pistole. Der sichere Umgang mit der Tatwaffe war also nicht genügend gewährleistet. Außerdem hat jede Waffenart einen anderen Abzugswiderstand, so daß es bei wechselnden Waffen in unübersichtlichen Situationen bezüglich des jeweiligen Kraftaufwands zu Irritationen und Fehleinschätzungen kommen kann und damit zu tödlichen Gefahren.

Der Revolver hat im nichtgespannten Zustand einen kraftaufwendigen Abzugswiderstand (doubleaction) von 4,3 Kilogramm und im (vor-)gespannten Zustand (singleaction) einen Widerstand von etwa 1,3 kg. Die von Klaus T. getragene Waffe verfügt über keine manuell vom Schützen zu bedienende Sicherung. Bei der Führung derartiger Waffen (Revolver) im Dienst, so das Innenministerium freimütig, »befinden sich diese im Zustand der sogenannten 'erhöhten Feuerbereitschaft' (die Waffe ist geladen und entspannt)«. In besonderen erkennbaren Gefahrensituationen könne es aus Eigensicherungsgründen (im Sinne erwarteter Notwehrsituationen) geboten sein, die Waffe zusätzlich zu spannen. Die »Funktions- und Schützensicherheit« der Tatwaffe wird vom Innenministerium als hoch bezeichnet.

Der Revolver des Angeklagten befand sich ursprünglich im Holster und somit in nicht vorgespanntem Zustand. Jedenfalls geht niemand davon aus, daß der Revolver vorgespannt gewesen sei. Durch eine Erschütterung oder Herausfallen der Waffe ist ein Spannen des Hahnes nicht möglich, so das Landeskriminalamt in einer Stellungnahme.

Was die »unbeabsichtigte« Schußauslösung bei dieser Art von Waffe anbelangt, so bezeichnet das Innenministerium die Wahrscheinlichkeit einer solchen ohne manuelle Abzugsbetätigung als »gering«; im Gutachten des Landeskriminalamtes heißt es deutlicher: »Zur Schußabgabe muß immer der Abzug betätigt werden.«

Während der Hauptverhandlung hat sich durch Sachverständigen-Vernehmung herausgestellt, daß die Tatwaffe störungsfrei funktionierte, der Hahn sich nicht durch Fall bzw. Erschütterung von selbst vorspannen kann und ohne Vorspannung ein hoher Abzugswiderstand von 4,3 kg zu überwinden ist. Diese Faktoren machen eine Schußabgabe durch eine Art von Reflex während des »Gerangels« zwischen Verfolger und Verfolgtem - wie es vom Angeklagten (und von der Anklage) behauptet und vom Gericht letztlich im Ergebnis bestätigt wird - eher unwahrscheinlich.

Doch ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes und im Verfahren bestätigtes Gutachten hält es für »denkbar«, daß bei unterschiedlichen in Frage kommenden Bewegungsabläufen - wie Festhalten, Stolper-, Sturz-, Greif- und Aufstehbewegung - der Abzugswiderstand vom Waffenträger unwillkürlich und unbeabsichtigt überwunden werden könnte. Auch kurz vor Abschluß der Beweisaufnahme hielt es der - u.a. für das SEK arbeitende - Sachverständige für Sensomotorik für denkbar, daß in Streßsituationen und bei Mehrfachbelastungen (hohes »Belastungsprofil«) ein solch hoher Widerstand von 4,3 Kg mit dem Zeigefinger unbeabsichtigt überwunden werden könne. Für den Angeklagten habe eine hohe »psychozerebrale Belastung« bei dem Handgemenge mit Halim Dener bestanden. Weiterhin sei bei der Entdeckung des Revolververlusts beim Angeklagten ein hoher Erregungszustand ausgebrochen, das Ergreifen der Waffe habe zu diversen Hand- und Fingerbewegungen geführt, die darüber hinaus durch das gleichzeitige Festhalten des Halim Dener beeinflußt sein konnten. Hinzukomme noch die Aufstehbewegung und der Versuch, eine stabile Haltung zu erzielen, wobei die Rangelei mit anschließendem Losreißen des Halim Dener und Stolpern des Angeklagten zu Kompensationsbewegungen geführt haben könnten, die wiederum zu dem sog. Strohhalm-Effekt, dem intensiven Festklammern an einen in der Hand befindlichen Gegenstand (hier: die Waffe) führten. Alles in allem sei der Angeklagte vollkommen überfordert gewesen - obwohl alle Polizeizeugen Klaus T. als »ruhig und besonnen« charakterisiert haben. Die waffenführende Hand des Angeklagten habe nicht mehr der bewußten Steuerung und Kontrolle unterlegen.

Ein von der Nebenklage benannter Schußwaffenexperte war dagegen bei Experimenten mit erfahrenen Polizeibeamten in vergleichbaren Situationen zu dem Ergebnis gelangt, daß nur zwei von 21 Versuchspersonen unbewußt einen Schuß abgegeben hatten. Allerdings sei dabei der Revolverhahn vorgespannt gewesen und somit der Abzugswiderstand nur etwa 1,7 Kg hoch (,singleaction-Modus«). Der Sachverständige ging davon aus, daß ein »doubleaction«-Schuß nicht unwillkürlich oder aufgrund eines Reflexes beim Stolpern, Stürzen etc. abgegeben werden könne.

Einem Berufungsurteil des Landgerichts Frankfurt/M. (Az. 5/34 Ns-73 Js 31496.3/92), das wir in das Verfahren eingeführt haben, ist die Aussage des Schußwaffen-Sachverständigen Prof. Dr. Sellier zu entnehmen, wonach die Kraft im Zeigefinger auch bei Schreck oder unwillkürlichem Reflex ein Kilopond nicht übersteige. Das bedeutet: Durch rein mechanische Auswirkung könne ein Schuß selbst mit vorgespannter Waffe, die im Fall der Tatwaffe einen Abzugswiderstand von 1,3 kg aufweist, nicht ausgelöst werden (S. 14). Die 3. Strafkammer des Landgerichts Hannover befand in seinem Urteil, daß diese Erkenntnisse auf den hier zu beurteilenden Fall nicht übertragen werden könnten.

Doch selbst wenn man die Streß- und Überforderungstheorie als wahr unterstellt, so drängt sich die Frage auf, wie dies passieren konnte, wo doch insbesondere die bestens geschulten SEK-Beamten immer und immer wieder darauf gedrillt werden, den Lauf der Waffe nicht auf Menschen, sondern die Mündung der Waffe schräg nach unten zu richten sowie den Finger nicht gekrümmt am Abzug, sondern längs des Abzugs bzw. des Laufs zu halten - auf alle Fälle dann, wenn es - wie hier - überhaupt zu keinem Schußwaffengebrauch kommen soll. Die Polizeidienstvorschrift 211 »Schießausbildung« schreibt eindeutig vor, daß der Zeigefinger der waffenführenden Hand längsgestreckt am Abschußbügel zu halten ist, soweit eine Schußabgabe nicht beabsichtigt wird. Diese im Schießtraining - dem Schwerpunkt der SEK-Ausbildung - ständig vermittelte Handhabung der Waffe gehe den Polizeibeamten »in Fleisch und Blut über«, so die Vorgesetzten des Angeklagten und dessen Anwalt in seiner Schutzschrift.

Die Handhabung seiner Dienstwaffe sei ihm aus der regelmäßigen Aus- und Weiterbildung des SEK genauestens bekannt gewesen; gleichwohl sei es ihm nicht bewußt gewesen, daß es gefährlich sein könnte, die Waffe in einer solch unübersichtlichen Situation zu ergreifen; er habe es auch nicht als besonders riskant angesehen, die Waffe in das Holster zurückzustecken und dabei am Körper von Dener vorbeizuführen; da er im Umgang mit Schußwaffen geübt sei, habe er gemeint, den Vorgang voll kontrollieren zu können - Dener also weiter festzuhalten und gleichzeitig die Waffe zu holstern.

Prioritätensetzung in Konfliktfällen

Hier stellt sich die Frage, welche Prioritäten in solchen Konfliktfällen in Ausbildung und Praxis gesetzt werden: Geht im Zweifel das Festhalten eines Verdächtigen vor oder die Sicherheit. Das Fliehenlassen einer festgehaltenen Person scheint für Polizeibeamte selbst in solchen Situationen keine vernünftige Alternative zu sein. Das zeigt sich daran, daß der Beschuldigte selbst nach dem Schuß sogleich die Verfolgung wieder aufgenommen hat. Das zeigt sich auch daran, daß sein Kollege, mit dem er auf Streife war, auch der Verfolgung von Halim Dener den Vorrang gab, obwohl er zunächst fälschlicherweise gedacht hatte, sein Kollege sei von dem Fliehenden angeschossen worden. Hier siegte der Verfolgungseifer über die Pflicht zur Ersten Hilfe gegenüber seinem möglicherweise verletzten Kollegen. Selbst die Anklage war noch davon ausgegangen, daß der Angeklagte die Schußauslösung hätte vermeiden können, »wenn er die Waffe bis zur Beruhigung der Situation auf dem Boden fixiert oder in eine andere Richtung gehalten und Halim Dener hätte entkommen lassen« (S. 2). Und auch der Sachverständige für Sensomotorik hat im Verfahren festgestellt, daß Aktivitäten der nicht waffenführenden Hand - hier also das Festhalten von Halim Dener - auf die waffenführende Hand übertragen würden - dies gelte insbesondere für Greifbewegungen der Hände und für Beugebewegungen der Arme (Overflow activity).

Die ganz andere Sicht

Schon die Anklage hatte die Version des Angeklagten weitgehend übernommen, obwohl damals noch längst nicht geklärt war, ob der Schütze nicht doch mit bedingtem Vorsatz gehandelt hatte, etwa um den Plakatekleber an der Flucht zu hindern. So haben Zeugen Situationen geschildert, die weder mit dem angeblichen Zubodengehen der beiden »rangelnden« Personen noch mit der Version des herausgefallenen Revolvers in Einklang zu bringen sind. Einer der kurdischen Zeugen, ein Asylbewerber, hat im Verfahren ausgesagt, daß der Angeklagte den kurdischen Jugendlichen Halim Dener schon mit gezogener Waffe kontrolliert und verfolgt habe. Kurz darauf sei der Schuß gefallen. Diese Aussage des vereidigten Zeugen im ersten Prozeßanlauf 1996 erschütterte die Version des Angeklagten, wonach die Waffe bei einem Gerangel aus dem Holster gefallen sei und sich der Schuß beim Zurückführen der Waffe gelöst haben soll. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft gegen den Zeugen ein Ermittlungsverfahren wegen Meineids eingeleitet.

Kurz nach seiner Aussage und bevor der erste Prozeß wegen Krankheit eines Richters geplatzt ist, wollte das Ordnungsamt bzw. die Ausländerstelle der Landeshauptstadt Hannover den brisanten Zeugen, der mit einer deutschen Frau verheiratet war, ausweisen und abschieben. Diesem Ansinnen hat das Landgericht allerdings widersprochen. Während der Neuauflage des Prozesses 1997 hat dieser Zeuge seine Aussage variiert und erklärt, eine Waffe bei dem Angeklagten erst nach dem Schuß gesehen zu haben. Auf Nachfrage der Nebenklage erklärte der Zeuge, daß er Angst vor einer Abschiebung in die Türkei habe, wo jemand, der einen Polizeibeamten so schwer belastet, der Foltergefahr ausgesetzt sei oder gar um sein Leben fürchten müsse. Das Gericht stuft diesen Zeugen insgesamt als unglaubwürdig ein, weil dessen Aussagen in entscheidenden Punkten den sonstigen Beweisergebnissen widersprächen. Auffällig ist, daß für das Gericht die Aussagen fast aller kurdischen Zeugen aus diesem Grunde »unglaubhaft« sind. Doch auch ein anderer (libanesischer) Zeuge sagte aus, eine gezogene Waffe in der Hand des SEK-Polizisten gesehen zu haben, als dieser hinter - dem allerdings bereits getroffenen - Halim Dener hergelaufen sei. Ein Hamburger Polizeibeamter, der sich zufällig am Tatort aufgehalten hatte, gab in seiner ersten Vernehmung an, daß der Täter, der sich noch in Hockstellung befunden habe, eine Schußwaffe in der Hand gehalten und damit in Richtung des Verfolgten gezielt habe. Bei dieser Vernehmung wußte er nicht, daß es sich bei dem »Täter« um einen Polizeibeamten handelte. In seiner Nachvernehmung, als er bereits erfahren hatte, daß es sich um einen Kollegen handelt, hat er diese Angaben - für das Gericht glaubhaft - relativiert bzw. zugunsten des Beschuldigten korrigiert. Das Gericht sieht »keine Anhaltspunkte dafür-, daß dieser Zeuge als Polizeibeamter sein Aussageverhalten wahrheitswidrig zu Gunsten des angeklagten Polizeibeamten geändert hat«.

Polizeiliche Todesschüsse

Innerhalb der vergangenen 25 Jahre sind in der Bundesrepublik über 330 Menschen von Polizeikugeln tödlich getroffen worden - in unterschiedlichen Situationen, auf frischer Tat, zur Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Angriffen, bei Verkehrs- und Ausweiskontrollen, beim Versuch der Festnahme oder auf der Flucht oder aber aus Versehen erschossen. Durchschnittlich fielen also Jahr für Jahr etwa 13 Menschen polizeilichen Todesschüssen zum Opfer. 1995 waren es überdurchschnittliche 19, 1996 insgesamt 10; 77mal ist aus Gründen wie Notwehr, Lebensgefahr oder zur Fluchtverhinderung gezielt auf Personen geschossen worden (Polizei-Extrablatt 6/97).

Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß in der offiziellen Todesschuß-Statistik der Polizeiführungsakademie seit 1983 die Todesfälle durch »unbeabsichtigte« Schüsse aus Polizeiwaffen nicht mehr aufgeführt werden. Immerhin haben sich zwischen 1976 und 1982 durchschnittlich 37 Schüsse pro Jahr »unbeabsichtigt« aus Polizeiwaffen davongemacht, die Personen verletzten und Sachen beschädigten (vgl. Kriminalistik 10/1983, S. 470 ff.). Zwischen 1980 und 1994 haben etwa 13 der unbeabsichtigten Schüsse zu Todesopfern geführt, 1996 zwei von zehn.

Durch Polizeischüsse verletzte Menschen erhöhen die Zahl der Opfer des polizeilichen Schußwaffengebrauchs noch erheblich - allein von 1976 bis 1991 sind es über 800 Verletzte, also im Schnitt 50 pro Jahr. 1995 wurden 52, 1996 insgesamt 43 Personen durch Polizeischüsse mehr oder weniger schwer verletzt (Polizei-Extrablatt Nds. 6/97; vgl. insges. Gössner/Neß, Polizei im Zwielicht, Frankfurt/M. 1996, S. 188 ff.).

Spezialeinsatzkommando (SEK) und Zivilstreifendienst - vereinbar?

Der angeklagte Polizeibeamte, der Halim Dener erschossen hat, ist Mitglied des niedersächsischen SEK. Diese polizeiliche Spezialtruppe wird in erster Linie zur Bekämpfung von besonders schwerer Gewaltkriminalität eingesetzt, so lautet ihr Generalauftrag. Wer beim SEK als freiwilliger »Spezialpolizist« Dienst tut, muß eine »gute Kombination physischer und psychischer Eigenschaften« aufweisen. Bei der Aus- und Fortbildung wird ein weit überdurchschnittliches Gewicht auf das körperliche Härtetraining in Nahkampfsportarten und auf die mehrmals wöchentlich stattfindende intensive Schießausbildung (u.a. in Schießkinos) gelegt. Auch wenn die spezielle Schießausbildung, die auch den Todesschuß umfaßt, von den Polizeiführungen als »lebensnah« gepriesen wird, so besteht zumindest bei stupidem Intensivtraining die Gefahr, daß das Schießen als Reflex gedrillt wird: in bestimmten Situationen schießen, ohne zu denken, ohne alternative Konfliktlösungsstrategie. Zum Konditionierungsprogramm gehören neben der Härteausbildung auch Psychologie-Seminare und Streßbewältigung - u.a. mit Desensiblisierungstherapien, Angstbewältigung und Hemmschwellen-Absenkung. Ferner Waffenübungen in allen Situationen, bei Tag und Nacht auch unter Belastung und Streß, sowie ständiger Kontakt mit der Waffe.

Die Eingriffsschwelle des SEK ist im Laufe der Jahre ihrer Existenz kontinuierlich herabgesenkt worden. Prinzipiell problematisch ist die in Niedersachsen geübte Praxis, SEK-Beamte, die für extreme Situationen, für besonders gravierende Ausnahmefälle der Gewaltkriminalität und hartes Durchgreifen geschult sind, im alltäglichen (zivilen) Streifendienst zur Bekämpfung der »gewöhnlichen« oder einfachen Straßenkriminalität einzusetzen, wie es ein Erlaß des Innenministeriums aus dem Jahre 1989 (,VS-Nur für den Dienstgebrauch«) vorsieht und wie es auch im vorliegenden Fall praktiziert wurde. Der Angeklagte befand sich in der Todesnacht auf Zivilstreife. Die Gefahr eines überzogenen Einsatzes ist damit möglicherweise vorprogrammiert. Schließlich werden SEK-Beamte in bestimmten Handlungsweisen und Einsatzformen mit der Schußwaffe »geradezu gedrillt«, so der Polizeioberrat Matthias Oltersdorf, der als Dienststellenleiter für das niedersächsische SEK verantwortlich war. (Auf der anderen Seite ist das Argument, mit dem normalen Streifendienst von SEK-Beamten könne die Abschottungstendenz von Spezialeinheiten aufgebrochen werden, nicht ganz von der Hand zu weisen.)

Psychofaktor »Eigensicherung«

Eigensicherung ist zentraler Bestandteil der Polizeiausbildung. Sie spielt, auch nach Aussage der Polizeizeugen im Prozeß, eine zentrale Rolle. Die Frage lautet: Wie schützen sich Polizeibeamte vor den überall lauernden Gefahren? Was sich dahinter verbirgt, erweist sich als systematisches Bestreben der Polizeiführungen, ihre Beamten in ständige Alarm- und Kampfbereitschaft zu versetzen. Zu den obersten Grundsätzen gehört: »Argwohn wachhalten und nie in der Aufmerksamkeit nachlassen - im Zweifelsfall immer das Schlimmste annehmen - alle verfügbaren technischen Hilfsmittel nutzen.« So steht es in einer Broschüre der Gewerkschaft der Polizei zur »Eigensicherung« geschrieben. Auf Plakaten in Polizeirevieren ist zu lesen:

»Führe Deine Dienstwaffe immer mit. Halte sie griffbereit. Vorsicht bei Nacht! Vorsicht an einsamen und verdächtigen Orten. In der Routine lauert die Gefahr! Also: sei mißtrauisch. Vorherige Absprache! Gegenseitige Sicherung. Achte auf günstige Sicherungsposition! Sicht! Schußfeld! Deckung ...«

Im amtlichen »Leitfaden 371: Eigensicherung im Polizeidienst«, der als »Verschlußsache - Nur für den Dienstgebrauch« eingestuft ist, heißt es - zunächst allgemein:

»Es ist notwendig, bestimmte Verhaltensweisen der Eigensicherung einzuüben und ständig zu trainieren ... Bleiben Sie ... wachsam und rechnen Sie bei jedem Einsatz von Anfang an mit Gefahren! Sie können sonst Opfer unangebrachter Vertrauensseligkeit werden - Auch harmlos erscheinende Personen können sich plötzlich als gefährlich erweisen und unvermittelt angreifen ... Sie müssen Ihre Schußwaffe blitzschnell einsetzen können. Halten Sie deshalb die Schußhand möglichst frei!«

Zur Durchführung von Verkehrs- und Identitätskontrollen heißt es weiter: »Es ist stets daran zu denken, daß die Fahrzeuginsassen Straftäter sein können. Deshalb dürfen Sie bei Kontrollen nicht arglos sein ... Das Erscheinungsbild der zu kontrollierenden Personen kann trügen. Auch der bei einem harmlosen Anlaß Angetroffene kann gewalttätig werden. Der Griff zum Ausweis kann einer Waffe gelten ... Verhalten Sie sich stets so, daß Sie auf einen Überraschungsangriff sofort reagieren und notfalls Ihre Schußwaffe blitzschnell ziehen können.« - »Jede Bewegung kann der Vorbereitung eines Angriffs dienen.«

Dies sind eindrucksvolle Beispiele für die Aufbereitung einer ständigen Bedrohungssituation (was auch von allen danach befragten Polizeizeugen im Prozeß bestätigt wurde), in welcher der lebensbedrohliche Polizeigriff zur Schußwaffe als Routinehandlung antrainiert wird und, überspitzt formuliert, Putativ- bzw. Präventiverschießungen vorprogrammiert werden.

Triumpf der Polizeiversion

Das Gericht ist weitgehend den Einlassungen des Angeklagten gefolgt. Durch die Zeugen- und Sachverständigenaussagen sieht es diese Einlassungen bestätigt. Es läßt keinen Zweifel daran, daß ein fahrlässiges Verhalten des Anklagten, eine fahrlässige Tötung, keinesfalls vorliege. Das Sichern der Waffe und das gleichzeitige Festhalten von Halim Dener in einer unübersichtlichen Situation sei gerechtfertigt gewesen. Das Gericht stilisiert diese Festnahme-Situation zu einer »außergewöhnlichen«, in welcher der Angeklagte in Sekundenschnelle habe entscheiden müssen: »Die dadurch bei dem Anklagten u.a. eingetretene psychische Belastung war so groß, daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Angeklagte als ausgebildeter Polizeibeamter hätte voraussehen können, welche Gefahren bzw. Folgen sein Handeln haben werde.« Eine durch und durch wohlwollende Beurteilung mit dem Resultat des Freispruchs.

Auch dieses Verfahren gegen einen SEK-Beamten litt an typischen Mängeln, wie sie immer wieder dann zu Tage treten, wenn Polizeibeamte angeklagt sind. Bei der gerichtlichen Aufarbeitung der durch Polizeischützen verursachten Todesfälle bleiben die apparativen, strukturellen und mentalen Ursachen in aller Regel unberücksichtigt. Entsprechende Fragen der Nebenklage an Zeugen und Sachverständige - etwa nach der verdeckten Trageweise der Waffe, nach Schießausbildung oder Einsatztaktik - werden zumeist mit Hinweis auf eingeschränkte Aussagegenehmigungen oder weil sie mit dem eigentlichen Tatgeschehen nichts zu tun hätten, abgeblockt. Die meisten Ermittlungsverfahren dieser Art werden eingestellt oder enden mit Freispruch (Begründung: Notwehr/Putativ-Notwehr etc.), allenfalls mit der Verurteilung zu einer Geld- oder geringen Bewährungsstrafe wegen Fahrlässigkeit. Die Todesschützen können sich regelmäßig hinter das Schutzschild der Amtsautorität zurückziehen, ihnen werden nach der Tat Sonderrechte eingeräumt (Fürsorgepflicht) und nicht selten nimmt die Exekutive prägenden Einfluß auf die Ermittlungen (in denen die Polizei praktisch in eigener Sache tätig wird) sowie auf die anschließenden Strafverfahren, in denen meist die Polizeiversion triumphiert. All dies führt zu einer relativen Sanktionsimmunität von mutmaßlichen Polizeitätern. Untersuchungen jedenfalls belegen, daß eine unabhängige Kontrolle in diesem Bereich polizeilichfinalen Handelns nur recht selten stattfindet.

Die exekutiven Einflüsse und Steuerungsmöglichkeiten haben Einfluß auf die Beweiserhebungen und Sachverhaltsfeststellungen der befaßten Gerichte. Der Polizei - als in das Tatgeschehen involvierter »Partei« sowie als später ermittelnde Behörde in einem - fällt die Definitionsmacht über die jeweilige Situation vor Ort zu. Die Polizei ist im Zuge ihrer Ermittlungen - schon wegen des »ersten Zugriffs« - in der Lage, den kriminalistischen Gang der Ermittlungen vor Ort zu strukturieren und zu bestimmen.

Die Staatsanwaltschaften haben sich nur äußerst selten als Korrektiv erwiesen. Indem die Polizei nach der Strafprozeßordnung im Auftrag der Staatsanwaltschaft - als deren »Hilfsbeamte« sie dann tätig wird - auch die Ermittlungen in eigener Sache führt, ist sie also Ermittlungsinstanz gegen sich selbst - ein in einem demokratischen Rechtsstaat unerträglicher Umstand. Der immer wieder festzustellende Korpsgeist innerhalb des Polizeiapparates - insbesondere bei sog. Elite- und Spezialeinsatzkommandos - kann sich also voll entfalten. Und die funktionell dem »Staatswohl« dienenden Staatsanwälte tun sich - auch wegen ihrer objektiven Beziehungen zur Polizei - traditionell schwer damit, gegen in Verdacht geratene »Staatsdiener« im Polizeidienst mit der gleichen Intensität zu ermitteln, wie sie das gegen Privatpersonen zu tun pflegen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Im vorliegenden Fall liegt eine Ausnahme von dieser Regel allerdings nicht vor.

Und viele Strafrichter haben die exekutive Position so stark verinnerlicht, daß sie bereit sind, dem Polizeiapparat und den einzelnen Polizisten vieles nachzusehen und beamteten Zeugen von vornherein mehr zu glauben als Privatpersonen, ganz besonders, wenn es sich um Ausländer handelt. Die parteiliche Polizeiversion über tödlich verlaufende Fahndungen, Identitätskontrollen, Festnahmen und Fluchtversuche triumphiert qua exekutivem Amtsbonus über die historische Wahrheit und wird so - über die gefilterte forensische »Wahrheit« - zur Basis eines Gerichtsurteils zum »Wohle« des Staates, der sich auf diese Weise der Bevölkerung gegenüber in förmlichen Verfahren zu entlasten weiß. Die Richter drohen hier zu Rechtfertigungsgehilfen im Sinne der »Staatsräson« zu werden, das Urteil zur nachträglichen Legitimierung tödlich verlaufender Polizeipraktiken und mitverantwortlicher apparativer Strukturen. Eine unabhängige Kontrolle findet in diesem Bereich polizeifinalen Handelns nur recht selten statt.

Der vorliegende Fall zeigt mit aller Deutlichkeit, daß selbst hochtrainierte und spezialisierte SEK-Polizeibeamte offenbar nicht zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie Bürger mit ihrer Waffe erschießen und es nicht zu widerlegen ist, daß sich der Schuß (angeblich) unbeabsichtigt und unter Streß gelöst habe. Aus diesem tödlichen Ereignis, dem (angeblichen) Herausfallen der Waffe, dem (angeblich) unwillkürlich ausgelösten Schuß, sind - so hat der Prozeß ergeben - polizeilicherseits keinerlei Konsequenzen gezogen worden - weder was die Schieß- und Streß-Ausbildung, noch was die Bewaffnung und die sonstige Ausrüstung (z.B. Holster) betrifft. Diese Tatsache könnte den Schluß zulassen, daß die Verantwortlichen im Polizeiapparat der vorgebrachten Unglücksversion des Angeklagten selbst keinen Glauben schenken. Im übrigen ist der Beschuldigte nach Aussage seines Vorgesetzten bis zur gerichtlichen Klärung nicht suspendiert worden, sondern bereits sechs Monate nach diesem Vorfall wieder im SEK- und Zivilstreifendienst mit der Waffe eingesetzt worden. Auch aus den offenkundigen polizeilichen Ermittlungsfehlern sind bislang keine Konsequenzen gezogen worden.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Buchautor und parlamentarischer Berater. Vertrat mit zusammen RA Hans-Eberhard Schultz die kurdische Familie des erschossenen Halim Dener. Die Anwälte haben mittlerweile Revision gegen das Urteil eingelegt. Über eine angemessene Entschädigung sowie über Schmerzensgeld für die Eltern wird mit dem Land Niedersachsen noch verhandelt.


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