Logo Geheim 2/1997

Freispruch im Halim-Dener-Prozeß
Ein Spezialpolizist vor Gericht

Notizen und Anmerkungen zu einem denkwürdigen Strafprozeß wegen eines polizeilichen Todesschusses (Teil 1)

Schon zum zweiten Mal beschäftigte der mysteriöse Todesschuß auf den kurdischen Jugendlichen Halim Dener im Sommer 1994 aus einer Polizeiwaffe das Landgericht Hannover. Nachdem der erste Prozeß 1996 wegen Krankheit zweiter Richter »geplatzt« war, kam es im Frühsommer zu einer Neuauflage - wieder unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und mit zahlreichen Merkwürdigkeiten durchsetzt. Das Urteil vom 27. Juni 1997: Freispruch für den wegen Fahrlässiger Tötung angeklagten Polizeibeamten - genauso wie es der Oberstaatsanwalt zuvor in seinem Schlußplädoyer gefordert hatte.

Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner (Bremen) vertrat zusammen mit RA Hans-Eberhard Schultz (Bremen) die in Türkisch-Kurdistan lebenden Eltern und die beiden Geschwister des erschossenen Jugendlichen Halim Dener (16) als Nebenkläger. Über das Strafverfahren gegen den SEK-Polizeibeamten Klaut T., die skandalösen Ermittlungsfehler und die denkwürdigen Begleiterscheinungen des Prozesses hat Rolf Gössner unmittelbar nach der Urteilsverkündung Notizen und kritische Anmerkungen gefertigt, die wir im folgenden in zwei Teilen veröffentlichen (Teil II folgt in GEHEIM 3/97).

Ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher, ein merkwürdigen Strafprozeß fand sein konsequentes Ende. Wieder einmal mehr zeigte sich, wie anders als gewöhnlich Ermittlungen und Strafverfahren doch laufen, wenn es sich um einen Polizeibeamten als Angeklagten handelt. Schon die Ermittlungen gegen den Beschuldigten gestalteten sich vollkommen anders, als bei einem »normalen« Beschuldigten, dem ein Tötungsdelikt zum Vorwurf gemacht wird. Einer vorbehaltslosen und gründlichen Aufklärung des Falles sind von Anfang enge Grenzen gesetzt worden. Weder Gericht noch Staatsanwaltschaft hielten es für nötig, offensichtliche Widersprüche gründlich aufzuklären. Mit ihrem verständnisvollen und fürsorglichen Umgang mit dem angeklagten Polizeibeamten und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Opfern und Nebenklägern, den Eltern des getöteten Halim Dener, bewegten sie sich mitunter hart an der Grenze zur Parteilichkeit und Voreingenommenheit.

In seinem Schlußwort plädierte der Oberstaatsanwalt bereits auf Freispruch und gestand dabei, daß die Tat überhaupt nur wegen des (öffentlichen und internen) Drucks angeklagt worden sei. Eigentlich hätte er das Verfahren schon frühzeitig einstellen müssen - für die Länge des Verfahrens müsse er sich bei dem Angeklagten entschuldigen. Wie soll ein Staatsanwalt in einem derart wichtigen Prozeß die Anklage überzeugend vertreten, wenn er schon bei Anklageerhebung der Überzeugung war, der von ihm Angeklagte sei unschuldig, das Verfahren müsse eigentlich eingestellt werden? Muß ein solcher Staatsanwalt nicht als hochgradig befangen angesehen werden? Doch der Oberstaatsanwalt droht in seinem Schlußplädoyer ganz unbefangen in Richtung Nebenklage: Wer nach der Beweisaufnahme noch von einer vorsätzlichen Tat spreche, mache sich der üblen Nachrede gegenüber dem Angeklagten schuldig - das klingt wie eine (versuchte) Nötigung all jener, die es wagen sollten, weiterhin eine abweichende Auffassung zu vertreten und etwa von einer Körperverletzung mit Todesfolge oder einer fahrlässigen Tötung zu sprechen.

Warum eine Nebenklage?

Für einen Rechtsanwalt und Strafverteidiger ist es ungewöhnlich und ungewohnt zugleich, sozusagen in die Rolle des Anklägers zu schlüpfen und eine Nebenklage zu vertreten. Gleichwohl erschien eine Nebenklage-Vertretung im vorliegenden Fall von Anfang an besonders notwendig. Zum einen leben die Eltern des Opfers in der Türkei und können ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen. Außerdem handelt es sich um die Tat eines Polizeibeamten, der während seines Dienstes einen Menschen erschossen hat. Schon am Tag nach dem Vorfall wurde deutlich, daß die Polizeiführung (und wenig später auch die Staatsanwaltschaft) die entlastende Version des Angeklagten (,Unglücksfall«) unkritisch übernommen hat. Die anfänglichen Ermittlungsfehler, die privilegierende Behandlung des Beschuldigten und die zahlreichen Widersprüche des Vorfalls ließen es notwendig erscheinen, die Aufklärung des tödlichen Ereignisses von außen zu forcieren. Denn bei der gerichtlichen Aufarbeitung der durch Polizeischützen verursachten Todesfälle belieben die apparativen, strukturellen und mentalen Ursachen erfahrungsgemäß unberücksichtigt. Die meisten Ermittlungen dieser Art werden frühzeitig eingestellt oder enden mit Freispruch. Nicht selten nimmt die Exekutive prägenden Einfluß auf die Ermittlungen, in denen die Polizei in eigenen Sache tätig wird, sowie auf die anschließenden Strafverfahren, in denen meist die Polizeiversion triumphiert.

Ziel unserer Vertretung der Familie des erschossenen Halim Dener in ihrer Nebenklage was es nicht, daß der Angeklagte eine möglichst hohe Freiheitsstrafe verpaßt bekommt. Ziel war es vielmehr in erster Linie, die Verantwortlichkeiten für diesen Todesschuß herauszufinden und den strukturellen Hintergrund der Tat auszuleuchten - also welche Bedingungen in der Ausbildung, im Spezialkommando SEK, der Bewaffnung, der Dienstaufsicht etc. sind es, die neben dem individuellen (Fehl-)Verhalten zu jenem tödlichen Ereignis führten.

Mysteriöser Todesschuß

Der kurdische Jugendliche Halim Dener war im Juni 1994 beim Kleben von Plakaten einer - PKK-nahen - Vereinigung in der hannoverschen Innenstadt von einer Zivilstreife gestellt worden. Als der Jugendliche zu fliehen versuchte, ist er mit einem Schuß aus der Dienstwaffe (Revolver) des SEK-Beamten Klaus T. aus nächster Nähe erschossen worden. Die Kugel traf ihn in den Rücken. Er stirbt später an inneren Blutungen.

Der damals 28jährige Klaus T. behauptet, daß ihm der Revolver bei einem Gerangel mit Halim Dener aus dem Holster gefallen sei und sich der Schuß beim Zurückführen der Waffe und Losreißen des Flüchtenden unbeabsichtigt gelöst haben müsse. Die Tat, die Täterversion, die Ermittlungen und die Anklage weisen zahlreiche Widersprüche auf, die in dem Strafverfahren eigentlich geklärt werden sollten. Doch sie konnten letztlich nicht geklärt werden - was nicht nur dem schwindenden Gedächtnis der Zeugen zuzuschreiben ist, die sich nach insgesamt drei Jahren nur noch schwer und unpräzise erinnern konnten.

Das Todesopfer

Der 16jährige Kurde Halim Dener aus Bingöl/Türkisch-Kurdistan war erst wenige Wochen in der Bundesrepublik. In Niedersachsen hatte er Asyl beantragt und dies damit begründet, daß er als Kurde in der Türkei verfolgt werde: Er war vor seiner Ausreise nach Deutschland in der Türkei eine Woche lang inhaftiert gewesen und gefoltert worden. Sein Heimatdorf ist, wie unzählige andere kurdische Dörfer zuvor, von der türkischen Armee niedergebrannt worden. Deners Aufenthalt in Niedersachsen wurde vorläufig gestattet.

Plakatekleben als »terroristisches« Delikt

Halim Dener wurde von zwei Zivilpolizisten bei Plakatieren erwischt. Bei den inkriminierten Plakaten handelt es sich um solche der in Deutschland verbotenen »Nationalen Befreiungsfron Kurdistan« (ERNK), die als Nebenorganisation der »Arbeiterpartei Kurdistan« (PKK) gilt, die in Deutschland teil- und zeitweise als »terroristisch« eingestuft wurde und seit 1993 verboten ist. Auf diese Weise wurde aus dem harmlosen Plakatekleben - allenfalls als Ordnungswidrigkeit und Sachbeschädigung zu qualifizieren - ein quasi »terroristisches« Delikt (Unterstützung bzw. »Werbung« für eine verbotene bzw. terroristische Vereinigung und Verstoß gegen das Vereinsverbot) - mit tödlichen Folgen für den »Delinquenten«.

In einer Nachvernehmung durch die Staatsanwaltschaft hatte der beschuldigte Polizeibeamte Klaus T. in diesem Zusammenhang ausgesagt, beim Anblick der jugendlichen Plakatierer habe er »nicht nur an eine Ordnungswidrigkeit oder eine Sachbeschädigung gedacht«; er habe vielmehr - wenn auch ohne nähere rechtliche Bewertung - den Verdacht geschöpft, es könne sich um eine strafbare Unterstützung der verbotenen PKK handeln - was ihn allerdings, so betonte er ausdrücklich, nicht zu einer Kontrolle mit gezogener Waffe veranlaßt habe. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß nach der massiven offiziellen Propaganda gegen die »terroristische« PKK und gegen die Kurden insgesamt («Neue Dimension des Terrors«) sich in den Köpfen von Polizeibeamten möglicherweise ein entsprechendes »Feindbild« festgesetzt hat, das zu einem überzogenen Verhalten geführt haben könnte.

Der Hannoveraner Kriminalbeamte Winfried Holzinger weist für die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritische Polizistinnen und Polizisten darauf hin, daß bei der Beurteilung dieses Falles »nicht die politische Verantwortung für das Verbot der kurdischen Verbände außer Acht gelassen werden« dürfe: »Ich denke schon, daß sich die Kriminalisierung der Kurden (...) auch in den Denkprozessen der Polizeibeamten niedergeschlagen hat. An sich ist das Plakatieren ja ein normaler Vorgang des politischen Lebens. Mit dem Verbot entwickelt sich da schon ein anderer Sachverhalt, der solche Dynamiken zuläßt.«

Die Anklage

Zwar folgte die Staatsanwaltschaft weitgehend der entlastenden Version des Angeklagten, kam jedoch trotzdem zum Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Die Fahrlässigkeit sah die Anklagebehörde darin, daß der Angeklagte »als Polizeibeamter, der beim Spezialeinsatzkommando besonders intensiv im Umgang mit Schußwaffen geschult worden war, wußte, daß eine scharfe Waffe insbesondere bei den letztlich nicht kontrollierbaren Abläufen einer körperlichen Auseinandersetzung nie ohne einen rechtfertigenden Anlaß auf einen Menschen gerichtet werden darf«. Er habe daher »voraussehen können und müssen, daß sich bei dem Gerangel mit Dener ein Schuß lösen und diesen töten konnte, wenn er den Revolver derart an ihm vorbeiführte«; dies hätte er vermeiden können, »wenn er die Waffe bis zur Beruhigung der Situation auf den Boden fixiert oder in eine andere Richtung gehalten und Halim Dener hätte entkommen lassen.«

Absurdes Bedrohungsszenario während des Prozesses

Der Prozeß gegen den angeklagten SEK-Polizeibeamten Klaus T. vor dem Landgericht Hannover fand in einer Polizeifestung statt. Massives Polizeiaufgebot, berittene Polizei, Absperrgitter und körperliche Durchsuchungen waren dazu angetan, mögliche Prozeßbesucher abzuschrecken - vor allem Kurdinnen und Kurden, die miterleben wollten, wie mit dem polizeilichen Todesschuß gegen einen der ihren umgegangen wird. Wer sich von der Abschottung dennoch nicht abschrecken ließ, mußte sich ausweisen, wurde intensiv durchsucht, die Ausweise wurden kopiert. So wollte es der Vorsitzende Richter der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover, der diese Sicherheitspolizeiliche Anordnung eigens für diesen Prozeß erlassen hatte. Ein Antrag der Nebenklage-Vertreter, diese vollkommen überzogenen Maßnahmen sofort einzustellen, weil sie verfassungsrechtlich garantierte Öffentlichkeit des Verfahrens schwer beeinträchtigten, lehnte das Gericht kategorisch ab. Es fühlte sich offenbar bedroht, ohne allerdings eine Bedrohungsanalyse oder auch nur konkrete Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr vorzulegen. Der PKK-Hintergrund des Verfahrens reichte aus. Kurden könnten sich für den Todesschuß rächen wollen. Mit dieser ganzen Sicherheitsprozedur wurde die hysterisch geführte innenpolitische Debatte weiter genährt, mit der Kurden längst zu Gewalttätern und Terroristen gestempelt und zu innenpolitischen Feinden erklärt worden sind.

Bei ersten Anlauf 1996 war der Prozeß unter extremen Sicherheitsauflagen sogar in den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Celle verlegt worden, obwohl das Gericht, wie sich herausstellte, die angebliche Gefährdungsanalyse des Landeskriminalamtes selbst nicht kannte. Dies hatte uns damals veranlaßt, den Vorsitzenden Richter wegen Befangenheit abzulehnen, woraufhin dieser einen Hörsturz erlitt und aus dem Verfahren ausgeschieden ist. Die Strafkammer hatte zuvor sogar erwogen, bis auf die Presse die Öffentlichkeit für die gesamte Dauer des Verfahrens auszuschließen. Ursprünglich wollten die Richter zu jeden Sitzungstag mit einem gepanzerten Fahrzeug von Hannover nach Celle fahren; das Justizministerium hat ihrer Sicherheitshysterie jedoch einen Dämpfer verpaßt und den »Panzer« verweigert.

Zurück zur Neuauflage des Prozesses 1997: Erst die Kritik in den Medien und ein Brief der Nebenklage-Vertreter an den Landgerichtspräsidenten führten zu einer gewissen Einschränkung der sichtbaren Polizeipräsenz. Gleichwohl blieben vor dem Gerichtsaal Polizisten in Kampfmontur postiert, im Gerichtssaal saßen den zivilen Zuschauern bewaffnete Polizeibeamte im Genick. Einer der Zeugen, der ehemalige Vorgesetzte des Angeklagten beim Spezialkommando (SEK), erschien gar vor Gericht mit verdeckter Waffe im Zeugenstand. Bereits 1996 hatte er angekündigt, seine Dienstwaffe - wegen der »besonderen persönlicher Gefährdungslage« - auch im Gerichtssaal (verdeckt) zu tragen. Diesem Ansinnen widersprach der damalige Vorsitzende Richter mit dem Hinweis, daß die im Saal befindlichen Sicherungskräfte der Polizei bereits bewaffnet seien und das genüge. Daraufhin wurde der Zeuge seinerzeit krank Bei der Neuauflage 1997 hatte die Strafkammer nichts gegen den bewaffneten Zeugen einzuwenden, obwohl er dieses Mal keine besondere Gefährdung geltend machte. Vorgesetzte dieses Kalibers hatte der Angeklagte also zum Vorbild. Auch dessen ständige Begleitung durch drei bis vier Bodyguards in Zivil konnte mit keiner konkreten Gefährdung legitimiert werden. Alles in allem: ein absurdes Bedrohungsszenario.

Die Eltern des Opfers als Störenfriede

Die in Türkisch-Kurdistan lebenden Eltern des erschossenen Halim Dener hatten wiederholt den Wunsch geäußert, als Nebenkläger an dem Strafprozeß persönlich teilzunehmen. Doch die Deutsche Botschaft in Ankara verweigerte ihnen zunächst die Visa - ohne jegliche Begründung. Daraufhin haben wir gleich am ersten Verhandlungstag den Antrag gestellt, das Gericht möge umgehend bei der Deutschen Botschaft in Ankara über das Auswärtige Amt intervenieren und auf eine Erteilung der Visa hinwirken. Die persönliche Teilnahme stehe den Nebenklägern als Opfer der Tat nach der Strafprozeßordnung sowie nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz auf rechtliches Gehör zu. Danach hat jeder an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligte ein Recht darauf, im Verfahren persönlich - und nicht nur über seinen Rechtsanwalt - zu Wort zu kommen. Die Nebenkläger können höchstpersönlich Erklärungen abgeben, Fragen und Anträge stellen sowie das Wort im Rahmen der Schlußvorträge ergreifen. Das Gericht, so unsere Begründung, sei nicht zuletzt aufgrund seiner Fürsorgepflicht für die Nebenkläger gehalten, alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, um die gewünschte Anwesenheit in der Hauptverhandlung zu ermöglichen.

Doch das Gericht weigerte sich mit der Bemerkung, die Nebenkläger seien durch Anwälte vertreten, daher bedürfe es der persönlichen Teilnahme nicht. Es bestand offenbar keinerlei Interesse an einer unmittelbaren Konfrontation zwischen den Eltern mit all ihrer Trauer um den getöteten Sohn, und dem Angeklagten, der den Tod des Sohnes - wie auch immer - verursacht hat. Zwar bekundete der Angeklagte zu Beginn der Verhandlung sein Bedauern über das tödliche Ereignis, aber er sollte dies gegenüber den betroffenen Eltern persönlich zum Ausdruck bringen können (was er dann endlich in seinem Schlußwort getan hat).

Das Gericht lehnte nicht nur unseren Antrag ab, sondern es torpedierte, wie sich später herausgestellt hat, sogar die weiteren Bemühungen, für die Nebenkläger doch noch Einreisevisa zu erhalten.

»Gebot der Menschlichkeit«

Aufgrund der kritischen Medienberichterstattung über diese unverständliche Gerichtsentscheidung sah sich der Bundestagsabgeordnete Dr. Helmut Lippelt (Bündnis '90/DIE GRÜNEN) veranlaßt, beim Auswärtigen Amt (AA) zu intervenieren. Nachdem das AA zunächst Kooperationsbereitschaft signalisierte, übernahm es wenig später die ablehnende Argumentation der Deutschen Botschaft: Zum einen sei die Gefahr, daß die einreisenden Nebenkläger möglicherweise in Deutschland bleiben würden, gewichtiger als ihr Recht, als Nebenkläger persönlich am Verfahren teilzunehmen. Zum anderen habe das Landgericht Hannover bestätigt, daß die Anwesenheit der Eltern »nicht notwendig« sei, da sie zur gerichtlichen Klärung nichts beitragen könnten und ihre Interessen anwaltlich vertreten würden.

Nach dieser Abfuhr beschäftigte der Abgeordnete am 11.6.1997 den Bundestag in der Fragestunde mit diesem Problem: Wie könne, so fragte er die Bundesregierung, eine Botschaft überhaupt erwägen, »die Rechte der bei diesem Prozeß geladenen Nebenkläger, der Eltern eines durch eine Polizeiwaffe umgekommenen jungen Mannes, auf diesem administrativen Wege der Visumsverweigerung zu behindern?« und: »Erweckt eine Einreiseverweigerung nicht den Eindruck einer Rechtsverkürzung gegenüber den ausländischen Nebenklägern im Interesse eines deutschen Beamten?«

In seiner Antwort wiederholte der zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt die Argumente der Botschaft und die ablehnende Haltung des Landgerichts Hannover. Auf diese Feststellung reagierte der Bundestagsabgeordnete Peter Conradi (SPD), so notiert das Bundestagsprotokoll, mit dem Zwischenruf: »Unglaublich!«

Conradi stellte fest, daß es im vorliegenden Fall nicht lediglich »um ein Gerichtsverfahren über Mietstreitigkeiten« gehe, »sondern darum, daß der Sohn der Antragsteller, die als Nebenkläger tätig werden wollten, zu Tode gekommen ist«. Er fragte die Bundesregierung: »Hätte die Botschaft in diesem Fall nicht prüfen und dann die Visa erteilen müssen, weil es ein Gebot der Menschlichkeit ist, den betroffenen Eltern die Möglichkeit der Teilnahme am Prozeß zu geben?«

Erst in der Fragestunde erklärte der zuständige Staatsminister, daß die Deutsche Botschaft inzwischen vom Auswärtigen Amt angewiesen worden sei, die Visa zu erteilen - offenbar, nachdem Öffentlichkeit und Bundestag sich mit diesem Skandal kritisch beschäftigt hatten. Und so konnten die Eltern endlich zum 9. Verhandlungstag erstmals persönlich an dem Prozeß in Hannover teilnehmen, der allerdings nur noch vier Tage
dauern sollte.

Verkehrte Gerichtswelt

Während der Angeklagte, der Halim Dener erschossen hat, mit Bodyguards beschützt wurde, mußten sich die Eltern des Opfers einer peniblen und entwürdigenden Durchsuchung unterziehen lassen, bevor sie den Gerichtssaal betreten durften. Die »Begrüßung« des Vorsitzenden fielt kalt und bürokratisch aus: »Können Sie bestätigen, daß das die Eltern sind?« fragte er meinen Kollegen Eberhard Schultz; dann ein entsprechendes Diktat ins Protokoll. Kein persönliches Wort der Begrüßung (erst im Zuge der Urteilsverkündung sprach der Vorsitzende Richter den Eltern sein Beileid aus). Als die verschleierte Mutter Naile Dener während der Zeugenvernehmung zu weinen begann, will sie der Vorsitzende aus dem Gerichtssaal »komplimentieren«: Er fühlt sich ganz offensichtlich gestört. Unser Antrag, die Kosten der Reise der mittellosen Nebenkläger und die Kosten für einen Dolmetscher zur Verständigung zwischen den Nebenklägern und ihren Rechtsvertretern aus der Justizkasse zu begleichen, wird abgelehnt. Es ist schwer nachvollziehbar und den Nebenklägern kaum zu vermitteln, daß die Übernahme dieser Kosten abgelehnt wurde, während durch überzogene Sicherheitsmaßnahmen ein Vielfaches an zusätzlichen Kosten entstanden ist.

Die Verteidigung des angeklagte Polizisten hat in diesem Prozeß, wie sonst selten in Strafverfahren, kaum etwas zu tun - der Angeklagte wird schließlich bestens »verteidigt« durch das Wohlwollen des Gerichts und die Fürsorge des Oberstaatsanwalts, der ihn ursprünglich wegen fahrlässiger Tötung angeklagt hatte. Wie der Oberstaatsanwalt später im Plädoyer eingesteht, erfolgte die Anklage nur wegen des öffentlichen Drucks, sonst wäre offenbar schon frühzeitig eingestellt worden.

Schon bei den wenigen Nachfragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft zur Einlassung und Tatversion des Angeklagten wird dieser spürbar mit Samthandschuhen angefaßt - keine kritischen Fragen, keine Klärung von offensichtlichen Widersprüchen. Schon im ersten Prozeß 1996 waren die damaligen Strafkammer und der Oberstaatsanwalt dem Angeklagten behilflich, alle Widersprüche in seinen Aussagen mit eigenen Formulierungsvorschlägen und Interpretationen zu überbrücken. Die Frage der Nebenkläger-Vertreter beantwortete der Angeklagte erst gar nicht, weder damals noch während der Neuauflage des Prozesses - pauschal abgelehnt, weil er sich von uns vorverurteilt fühle. Mit dieser selektiven Verweigerung hat er sich einer vorbehaltslosen Aufklärung des Falles verschlossen und setzt sich dem Verdacht aus, kritischen Fragen auszuweichen.

Der Ton im Gerichtssaal wird immer dann gereizt, rüde und autoritär, wenn von unserer Seite bestimmte gerichtliche Maßnahmen und Entscheidungen gerügt oder »unziemliche« Anträge gestellt werden, die vom Gericht, mit wenigen Ausnahmen, rundweg abgelehnt werden ð so auch jener Antrag, den mit Dienstwaffe erschienenen SEK-Polizeizeugen vor seiner Zeugenaussage zu entwaffnen. Und das Gericht entscheidet dabei praktisch immer so, wie der Oberstaatsanwalt es vorher vorgeschlagen hat. Hintergründe der Tat interessieren das Gericht nur wenig. Und die Verteidigung, deren einzige sichtbare Aktivität in der Ablehnung unserer Anträge besteht, ist wohl zufrieden.

Schonverfahren für einen Polizei-Kollegen

Die gerichtliche Behandlung hatte bereits ihre Entsprechung im Ermittlungsverfahren: Schon gleich nach der Tat hatte sich gezeigt, daß es sich um keinen »normalen Todesschützen« handelte, sondern um einen Polizeibeamten des niedersächsischen Spezialeinsatzkommandos (SEK). Es hat sich im Laufe der Ermittlungen bestätigt, daß Klaus T. von seinen Kollegen direkt zur SEK-Dienststelle gebracht worden ist - statt, wie in Todesschußfällen üblich, zu der für Tötungsdelikten zuständigen Kripostelle. Erst auf der Dienststelle wurde seine Waffe sichergestellt; das Holster erst Stunden, der Gürtel, an dem das Holster befestigt war, sogar eine Woche später.

Außerdem konnte Klaus T. - auf Anraten seines Kollegen, mit dem er sich in jener Nacht auf Streife befand - seine Hände waschen und auf diese Weise wichtige Spuren im wahrsten Sinne des Wortes verwischen., bevor diese von der Spurensicherung auf Schmauch u.ä. untersucht werden konnten. Es gehört zum Allgemeinwissen, daß Spuren nicht beseitigt werden dürfen, jeder Krimi-Leser weiß das. Der fachgerechte Umgang mit Tatspuren gehört zum Einmaleins eines jeden Polizeibeamten - schon gar von Spezialpolizisten. Daß sein Kollege dem Beschuldigten geraten hat, sich doch die Hände zu waschen, weil diese so blutig sind, ließe sich als Aufforderung zur Spurenunterdrückung - und zwar der Schmauch- wie der Blutspuren - interpretieren, zumal der Kollege zum einen am engsten mit dem Beschuldigten und seiner Tat verbunden ist, zum anderen, weil er als Nichtbeschuldigter sich nicht auf »Verwirrung« herausreden kann.

Es ist jedenfalls immer wieder erstaunlich, daß sich gerade im Zusammenhang mit tödlichen polizeilichen Fehlleistungen Ermittlungs«pannen« und Dilettantismus häufen - wie etwa im Fall Bad Kleinen, als - neben etlichen weiteren »Pannen« - aussagekräftige Schmauch- und Blutspuren an den Händen der Leiche des getöteten Wolfgang Grams bei der Obduktion - ausgerechnet von BKA-Beamten - »irrtümlich« beseitigt worden sind, obwohl diese Spuren entscheidend sein können zur Klärung der Frage, ob Grams sich selbst getötet hat oder von Polizeibeamten erschossen wurde.

Auf der SEK-Dienststelle konnte Klaus T. auch mit Kollegen und Vorgesetzten über den Vorfall ausführlich reden. Erst vier Stunden nach dem Todesschuß, nachdem bereits Tatort-Spurensicherung und erste Zeugenaussagen aufgenommen worden sind, wurde der Beschuldigte erstmals von der Kripo zu dem Vorfall vernommen. Es ist denkbar, daß der Beschuldigte noch vor seiner verantwortlichen Vernehmung entlastend instruiert worden ist. Üblicherweise werden die an Todesschüssen beteiligten Polizeibeamten besonders betreut. Solche Sonderrechte werden als »fürsorgliche Maßnahmen« deklariert, dem Beamten soll in seinem Schock, seiner Streßsituation Gelegenheit gegeben werden, sein Verhalten und den Geschehensablauf in Ruhe zu überdenken, ehe er sich strafprozessual äußert (so der ehemalige Münchener Polizeipräsident Wolf).

Auch Klaus T. ist nach Gesprächen mit Vorgesetzten als »fürsorgliche und flankierende Maßnahme« ein sogenannter Betreuungsbeamter zugeteilt worden. Das ruhige Überdenken der Tat und möglicherweise die Rekonstruktion des Einsatzes unter »Betreuung« durch Vorgesetzte und Kollegen dienen mit Sicherheit nicht dem rechtsstaatlichen Anspruch der Öffentlichkeit auf rückhaltlose Aufklärung. Wie das Innenministerium später mitgeteilt hat, gab es im vorliegenden Fall Betreuungsgespräche auch unter seelsorgerischen Aspekten, »um den Sachverhalt gemeinsam mit dem betreffenden Beamten aufzuarbeiten«.

Ein solches Schonverfahren muß als Sonderbehandlung bezeichnet werden, die den Beschuldigten begünstigt. Jeder »normale Todesschütze« wäre von der Mordkommission am Tatort vorläufig festgenommen und ohne Möglichkeit der Kontaktaufnahme wenig später vernommen worden.

Dieses Verfahren mit einer ganze Reihe von Ermittlungsfehlern und unter absurden Sicherheitsbedingungen hat deutlich gemacht, wie notwendig eine kritische Öffentlichkeit ist, um zu verhindern, daß Strafverfahren gegen beschuldigte Polizeibeamte sang- und klanglos bereits im Vorfeld eingestellt werden, um wenigstens zu erreichen, daß die Polizeiversion kritisch hinterfragt wird und die strukturellen Hintergründe der Tat thematisiert werden. Doch letztlich blieben mit diesem Verfahren unter den genannten Bedingungen die kritischen Fragen der Öffentlichkeit unbeantwortet und die Erwartungen der Familie des erschossenen Halim Dener enttäuscht.

(Fortsetzung in GEHEIM 3/1997)

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Buchautor, parlamentarischer Berater, Mitglied der GEHEIM-Redaktion vertrat zusammen mit RA Hans-Eberhard Schultz die kurdische Familie der erschossenen Halim Dener. Letzte Buchpublikation »Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle?« (zus. Mit Oliver Neß, Campus-Verlag, Frankfurt/M., New York, 1996)


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