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»Ein untauglicher Versuch, den Anti-Castor-Widerstand zu delegitimieren«
(taz)-Interview zum Gorleben-Dossier des Verfassungsschutzes

taz: Ende letzten Jahres lancierte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ein vertrauliches Dossier mit dem Titel »Linksextremistische/militante Bestrebungen im Rahmen der Anti-CASTOR-Kampagne«. Wie läßt sich der Inhalt dieses Dossiers zusammenfassen?

Gössner: Der Tenor des 30-seitigen Geheimdienst-Dossiers lautet: Wer sich dem Castor in den Weg stellt, ist ein Gewalttäter und gefährlicher Krimineller. Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie etwa Blockaden, werden mit verdeckten Straftaten vermengt und unter dem Begriff »linksextremistische Militanz« verbucht. Wer vom Kampf gegen den »Atomstaat« spricht, wird als »Linksextremist« diffamiert. Warnend wird das »taktische Ziel der Atomkraftgegner« hervorgehoben, den Aufwand für Schutz- und Sicherungsmaßnahmen zur Durchführung von Castor-Transporten in eine wirtschaftlich und politisch nicht mehr vertretbare Höhe zu treiben - dies sei »Nötigung« der verantwortlichen Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft.

Breiten Raum nimmt die Behandlung von Gruppen ein, die angeblich »Gewalt praktizieren, propagieren bzw. tolerieren«. Dazu werden »Autonome«, »Anarchistische« und »Revolutionär-marxistische« Gruppen gezählt, aber auch die PDS und die Bürgerinitiativen im Wendland. Selbst die »Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen« und andere gewaltfreie Vereine gelten dem BfV als militant und gewaltorientiert. Die sensibelsten Passagen behandeln »Szeneobjekte im Wendland« - Wohngemeinschaften, Vereine, Tagungsstätten - mit Fotos, Adressen, baulichen Merkmalen und Aktivitäten. In regelrechten Personendossiers werden Daten zu Bewohnern und BI-Mitgliedern zusammengefaßt - schlicht ein Skandal.

taz: Das »vertrauliche« Dossier wurde einigen Zeitungen - u.a. dem »Spiegel«, der »Welt« und der »Süddeutschen Zeitung« zugespielt, die unkritisch den Inhalt zusammengefaßt haben. Was sollte damit bezweckt werden?

Gössner: In erster Linie wohl Stimmungsmache gegen den in weiten Teilen der Bevölkerung als legitim angesehenen Anti-Atom-Widerstand. Im Vorfeld neuer Castor-Transporte bedient sich das BfV der Desinformation, um den vielfältigen Widerstand als gewalttätig zu diffamieren. Offenbar ließen sich die genannten Presseorgane für diese Kampagne instrumentalisieren. Mit der Bekanntmachung des Dossiers durch die grüne Fraktion und die BI Umweltschutz konnte diese Strategie wenigstens ansatzweise durchkreuzt werden.

taz: In ihrer Stellungnahme kritisiert die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, daß das Dossier mit Falschmeldungen arbeite, »tendenziös und unglaubwürdig« sei. Stimmt das?

Gössner: Tendenziös ist gar kein Ausdruck für dieses Machwerk. Das BfV hat gewaltlosen und gewalttätigen Widerstand in unverantwortlicher Art und Weise vermengt. Unaufgeklärte Bahnanschläge werden unhinterfragt Castor-Gegnern angelastet, Ziviler Ungehorsam wird zum Gewaltakt verfälscht, der friedliche Bürgerprotest als von »militanten Kernkraftgegnern« praktisch unterwandert und die Bürgerinitiative als logistisches Zentrum eines linksextremistischen Netzwerkes dargestellt; einige ihrer Mitglieder werden mit nachweislich falschen Behauptungen in den Dunstkreis der »Militanz« gezerrt, ja sogar in den Dunstkreis des »Terrorismus«, indem Verbindungen zu RAF-Gefangenen bemüht werden. Innenminister Glogowski (SPD) im Landtag: »Der Verfassungsschutz beobachtet überhaupt keine Gruppierungen in Lüchow-Dannenberg. Der Verfassungsschutz beobachtet Terroristen...«

taz: Was soll mit diesem Dossier politisch erreicht werden?

Gössner: Diese Feindbildproduktion hat mehrere Funktionen: In Richtung Anti-Atom-Protest kann sie Verunsicherung verbreiten, Berührungsängste wecken und damit Spaltung provozieren, gegenüber der Bevölkerung den berechtigten Widerstand gegen Atommülltransporte delegitimieren. Der zu erwartende gigantische und gewaltsame Polizeieinsatz, mit dem die Castorbehälter ins Wendland durchgeprügelt werden sollen, könnte so öffentlich besser gerechtfertigt werden; nicht zuletzt soll die Polizei offenbar frühzeitig auf den »gewaltbereiten« Widerstand eingestimmt werden. Wenn dieses Kalkül aufgeht, dann dürften unverhältnismäßiges Durchgreifen, Eskalation und Polizeiübergiffe bereits vorprogrammiert sein.

taz: Im BfV-Dossier wurden auch einige Personen namentlich erwähnt und ihr Lebensumfeld ausspioniert. Muß jetzt jeder Castor-Gegner damit rechnen, vom VS überwacht zu werden?

Gössner: Nein, nicht jeder Castor-Gegner. Prinzipiell geht es dem VS als Geheimdienst um Strukturen und Gruppen, erst in zweiter Linie um einzelne Personen. Es ist davon auszugehen, daß der VS bemüht ist, den Anti-Castor-Widerstand langfristig zu infiltrieren und auszuforschen. Mit dem vorliegenden Dossier hat er dokumentiert, daß die Beobachtung im Wendland bereits länger währt - wobei gegen Gruppen und einzelne Personen wohl auch nachrichtendienstliche Mittel, wie V-Leute, Lockspitzel, Lausch- und Spähangriffe, zum Einsatz kamen. Sicher muß sich die Anti-Castor-Bewegung mit dieser staatlichen Ausforschung auseinandersetzen. Denn pure Arglosigkeit ist genauso schädlich, wie Angst vor weiterer politischer Betätigung gegen die Atompolitik. Die Angst vor Überwachung, vor allgegenwärtigen Spitzeln lähmt - und paßt sich nahtlos ein ins Konzept geheimdienstlicher Zersetzungsarbeit. Die beste Gegenstrategie: sämtliche VS-Machenschaften publik machen - denn die »Geheimen« scheuen nichts mehr als das Licht der Öffentlichkeit.

Dr. Rolf Gössner (Bremen) ist Rechtsanwalt, Publizist und rechtspolitischer Berater der Fraktion Bündnis 90/Grüne im Niedersächsischen Landtag. In der rot-grünen Regierungszeit maßgeblich beteiligt an Abbau und Liberalisierung des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Gössner gilt als einer der profiliertesten Bürgerrechtler und Geheimdienstkritiker und wird, wie kürzlich publik geworden, seit 26 Jahren vom VS beobachtet. Er ist zudem Mitglied der Redaktion von GEHEIM. Bundesweit bekannt geworden durch die Bestseller »Der Apparat - Ermittlungen in Sachen Polizei« (1982) und »Im Schatten des Rechts - Methoden einer neuen Geheim-Polizei« (1984; beide mit Uwe Herzog). Neueste Werke: »Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat« (1995) und »Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle?« (1996).

Wir haben hier den vollständigen Text des taz-Interviews abgedruckt.

Gössner, Rolf


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