Logo Geheim 4/1996

Landesdatenschutzbeauftragter gegen Lauschangriff

Lauschangriff contra »Weniger Demokratie wagen ...« Unter dieser gegenreformatorischen Parole eines Wolfgang Schäuble, plakatiert in der FAZ vom 18. September 1996, vollzieht sich - auf aber auch allen Gebieten von Staat und Gesellschaft - offen und aggressiv das Schauspiel, dessen im Vergleich leise Variante spätestens seit 1947 zu beobachten war, worauf akademische Parlamentarismuskritiker von links wie Johannes Agnoli lange, geduldig und vergeblich in ihren Veröffentlichungen und Seminaren aufmerksam zu machen versucht haben: die Involution der bürgerlichen Demokratie.

Wie wir hätten gewarnt sein müssen!

Maximilien Robespierre hat das fragliche Schauspiel als Akteur auf Seite derer, die »Mehr Demokratie wagen« wollten, einst für uns beschrieben: »Jene wollen die Republik für sich, diese wollen sie für das Volk konstituieren. Jene werden sich bemühen, die Regierungsform nach aristokratischen Prinzipien und im Interesse der Reichen abzuändern, diese werden versuchen, sie auf dem Grundsatz der Gleichheit und des Gemeinwohls aufzubauen.«

Karl Marx hat dasselbe, die der bürgerlichen Demokratie inhärente Ambivalenz, als Analytiker so formuliert: »Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen können und die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, und von den anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.«

Und wie es nach jener zweiten sozialen Restauration, die Beitritt hieß, zurückgeht zur politischen! Entdemokratisierung durch »Beschleunigung« und durch Polizeistaat zur »Sicherheit«; Abbau von Sozialleistungen wie von Grundrechten als Schutz gegen ihren »Mißbrauch«; »Hochverrat und die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats«, sprich: die Rechtmäßigkeit der Revolution überhaupt, und mithin jeder einzelnen (J.G. Fichte, 1793) neben Mord und Totschlag und Völkermord im Katalog der besonders schweren Straftaten jener »Eckpunkte« des Bundeskabinetts und unvermeidlich (s.o.) ihrer staatstragenden Opposition, die die akustische wie optische »Wohnraumüberwachung zur Beweismittelgewinnung« begründen sollen, den Großen Lauschangriff, die Große und Unbegrenzte Maßnahme, das Recht auf präventive Konterrevolution, das auch das erste und letzte Bürgerrecht, das Recht auf einen privaten, staatsfreien Raum, negiert.

Die »Humanistische Union« ruft zum Widerstand. Am 12. Juli, nur wenige Tage nach dem Kabinettsbeschluß zu den ,Eckpunkten« über eine »Wohnraumüberwachung zur Beweismittelsicherung« am 19. Juni, hat sie in einer Presseerklärung das »Bündnis gegen den Großen Lauschangriff« proklamiert, ein Bündnis aus (fast) allem, was in der Bürgerrechtsbewegung der Bundesrepublik Rang und Namen hat, und angekündigt, sich in einer Kampagne »mit allen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln für die verfassungsmäßige Ordnung einzusetzen«. Am 21. Oktober lud sie zum Bürgerforum gegen den Großen Lauschangriff nach Bonn, um noch einmal die Argumente gegen die »Grundrechtsdemontage« zusammenzutragen, verbunden mit einem Appell an die Bundestagsabgeordneten, der Verfassungsänderung die Mehrheit zu verweigern, einem Appell an die Landesregierungen, den Bundesrat zur Schranke zu machen, insbesondere an »die SPD, dem Bundesinnenminister keine Konzessionen zu machen«.

Die Schwierigkeit der Aufgabe, auf diesem Wege den neuerlichen Grundrechtsabbau zu verhindern, erhellt aus dem Umstand, daß die angerufene SPD im selben Zusammenhang darüber hinaus die Einschränkung der Unschuldsvermutung will und die Beweislastumkehr, und heute, während diese Zeilen entstehen, der CDU selbst die mögliche Zustimmung zur optischen Überwachung in Wohnräumen, die auf Kanthers Wunschzettel steht, signalisiert hat.

Das kämpferische Schlußwort der Veranstalter des Bürgerforums am 21. Oktober sprach die Studentin Marei Pelzer vom ,Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen«. Hier sollen die ermutigenden Schlußzeilen aus dem Aufmacher der Zeitung der »Jungdmokraten/Junge Linke«, Nummer 8 vom Herbst 1996, zitiert sein: »Von der Gegenseite können wir lernen, Polizeigesetze, Strafprozeßordnung und Grundrechtsformulierungen als Orte gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu interpretieren; lernen, den Kampf um Rechts- und Verfassungspositionen als konstitutiven Bestandteil linker Politik zu begreifen.«

Stefan Walz hatte das Bürgerforum mit einem Grundsatzreferat eröffnet. Wir haben ihn um Abdruckgenehmigung gebeten. Er hat sein Redemanuskript für uns überarbeitet. Wir drucken es.
(hpb)

1. Die bisherige Debatte

»Wir müssen immer wieder Verständnis dafür wecken, daß dem Rechtsstaat Grenzen gesetzt sind, die dem spontanen Rechtsempfinden vieler nicht immer entsprechen. Wir müssen akzeptieren, daß der Rechtsstaat auch diejenigen schützt, die es moralisch vielleicht gar nicht verdienen. Diese Beschränkung schützt uns alle, und sie schützt den Rechtsstaat selbst. Ohne sie ist Rechtssicherheit und damit Rechtsstaatlichkeit nicht denkbar.«

Diese Sätze verdienten, jeder rechtspolitischen Diskussion über das Verhältnis von individuellen Grundrechten und staatlichen Eingriffsbefugnissen als Richtschnur zu dienen. Sie stammen von höchster politischer Autorität, von Bundeskanzler Helmut Kohl, und zwar aus seiner Rede vor dem 59. Deutschen Juristentag 1992. Ein Zitat und damit schon einmal Gesagtes an den Beginn eines Redebeitrages zu stellen, signalisiert ein Risiko für alle, die sich im Herbst 1996 an der Debatte über das Für und Wider des Großen Lauschangriffs beteiligen. Alles ist schon einmal gesagt worden; es gibt kein Argument, das noch nicht vorgebracht worden wäre. Die Auffassung von der Verfassungswidrigkeit und Untauglichkeit des Großen Lauschangriffs einerseits, die Behauptung seiner Unverzichtbarkeit für wirksame Kriminalitätsbekämpfung, der Verweis auf die Absicherung gegen Risiken durch grundrechtssichernde Verfahren und der Hinweis auf seine Üblichkeit in europäischen Nachbarländern und in Übersee andererseits sind Pole der Diskussion. Da ist keine einschlägige Statistik, die noch nicht zitiert worden wäre, keine angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse des FBI, auf die sich noch niemand berufen hätte. Der Große Lauschangriff ist gleichsam das Stehaufmännchen der Debatte zur Inneren Sicherheit, und zwar der großen Politik, als auch der vermeintlich kleinen, der zahlreichen und daher um so meinungsstärkeren Stammtische. Man betrachte nur die letzten drei Jahre: Im Herbst 1993 wurde lebhaft debattiert - es stand der SPD-Bundesparteitag im November an, der die akustische Wohnungsüberwachung unter bestimmten Kautelen im Ergebnis »absegnete«. Im Herbst 1994 wurde intensiv diskutiert: Der Große Lauschangriff war Thema des Bundestagswahlkampfes. Und schließlich der Herbst 1995: Die FDP rang um ihre Position; der Mitgliederentscheid im Dezember 1995 fiel - mit einer Reihe von Vorgaben - zugunsten der Einführung des Großen Lauschangriffs aus. Jetzt, im Herbst 1996, geht es im Kern nur noch darum, welche der Beschränkungen, die in der Position der FDP enthalten sind, in den Text des Grundgesetzes statt in das einfache Gesetz kommen, und mit welchem Köder die SPD ins Boot der Verfassungsänderung gezogen werden kann.

2. Verändertes bürgerrechtliches Szenario - neue Eingriffsbefugnisse in Serie

Zwar finden sich in der Auseinandersetzung um den Lauschangriff Jahr für Jahr immer wieder die gleichen Argumentationsketten und Belegzahlen. Gleichwohl spielt sich die Diskussion im Jahr 1996 mitnichten im gleichen bürgerrechtlichen Szenario wie 1992 oder 1993 ab. Rechts- und Stimmungslage haben sich seither merklich geändert. In jedem der letzten Jahre ist das rechtsstaatliche Umfeld anders geworden. Konkreter: Der Schutzstandard für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde in den letzten drei bis vier Jahren dramatisch verschlechtert. Zu nennen sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit das Gesetz über die Organisierte Kriminalität (1992), das Verbrechensbekämpfungsgesetz (seit dem 1.12. 1994 in Kraft), das Ausländerzentralregistergesetz (in Kraft seit dem 1.10.1994), die Änderungen des Außenwirtschaftsgesetzes und des BGS-Gesetzes sowie die Ergänzungen der StPO, kombiniert mit Erweiterungen des materiellen Strafrechts. Diese neuen Gesetze haben u.a. eingeführt

  • die Rasterfahndung
  • den Verdeckten Ermittler
  • die beobachtende Fahndung
  • den Lausch- und Spähangriff, d.h. heimliches Filmen und Belauschen außerhalb von Wohnungen
  • die Ausweitung der Delikte, bei denen Telefonüberwachung zulässig ist (z.B. illegaler Waffenexport, jetzt vorgeschlagen für das Massendelikt Korruption)
  • die Vermehrung der Dienststellen, die abhören dürfen (z.B. Zollkriminalinstitut)
  • die flächendeckende Kontrolle der Auslandstelefonate durch den BND nach dem »Staubsaugerprinzip«
  • ein Ausländerzentralregister mit online-Anschlüssen für Polizei und Nachrichtendienste
  • die europäische Vernetzung von Teilen der polizeilichen Datensammlungen (Europol) und
  • die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei bei der Kriminalitätsbekämpfung.

Auch den Großen Lauschangriff gibt es bereits: Einige Landesgesetzgeber waren nicht untätig, haben ihr Polizeigesetz geändert und lassen ihn zu präventiven Zwecken zu. Der jetzt geforderte Große Lauschangriff als Instrument der Strafverfolgung könnte mithin nur als ein - wenn auch spektakuläres und emotional besonders hoch besetztes - weiteres Glied in der kontinuierlich verlängerten Kette von Befugnissen erscheinen, die den Sicherheitsbehörden in der jüngsten Vergangenheit eingeräumt worden sind.

3. Fragmentierung der Gesellschaft - Intensivierung der sozialen Kontrolle

Diese datenschutzpolitische Restauration war und ist nur möglich in einem politischen wie gesellschaftlichen Zustand, der als Koinzidenz rapider technologischer Modernisierung - Stichworte sind Multimedia, Informationsgesellschaft, transnationale Netze - bei gleichzeitiger exponentieller Zunahme sozialer Kontrolle bezeichnet werden könnte.

Die endlose Liste neuer Datenabgleiche, Mitteilungspflichten zwischen Behörden und Rasterkontrollen nicht nur im Bereich der Inneren Sicherheit, sondern auch und gerade im Sozialleistungsbereich, belegen die Tendenz, den Bürger »gläsern«, statt umgekehrt den Staat transparent zu machen.

Das »überwiegende Allgemeininteresse«, vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil als ausnahmsweise Legitimation zum Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeint, ist zum Einfallstor einer unaufhörlich verstärkten bürokratischen Überwachung des einzelnen geworden. Der gesetzliche Regelungsvorbehalt für Datenschutzeingriffe, eine weitere Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, hat sich als »Verrechtlichungsfalle« erwiesen: Statt behördliche Datenverarbeitung zu begrenzen durch präzise Gesetzgebung für einzelne Regelungsbereiche, haben umgekehrt die Parlamente in Ländern und Bund die vorhandene und laufend erweiterte Verwaltungspraxis der Datensammlung und des Datenaustauschs gesetzlich legitimiert. Ein wenig polemisch formuliert:

Wird der Rechtsstaat lästig, schlägt man ihn mit seinen eigenen formalen Mitteln und läßt die Paragraphenmaschine laufen. Ein ebenso starker wie im Detail diffuser Konsens über Politikziele wie »Bekämpfung der Organisierten Kriminalität« und - im Sozialbereich - »Eindämmung des Leistungsmißbrauchs« dient als argumentativer Hebel dafür, das nach dem Grundgesetz im Sinne liberaler Rechtsstaatlichkeit zu verstehende Verhältnis zwischen Bürger und Staat umzukehren. Der Staat hat nicht mehr den Eingriff in grundrechtlich geschützte Sphären des Bürgers zu legitimieren, sondern der Einzelne hat seine »weiße Weste« vorzuzeigen. Dieser diffuse Konsens gedeiht in einem Meinungsklima, das nicht von nüchterner Analyse der Kriminalstatistik und der realen Rahmenbedingungen der Strafverfolgungspraxis geprägt ist, sondern stattdessen von pauschaler Kriminalitätsfurcht und der Mentalität des starken Staates. Dieses Meinungsklima wird allerdings keineswegs nur von der Politik und interessierten Berufsverbänden erzeugt oder geschürt. Auch die Medien tragen dazu bei; und da man Journalistenschelte vorsichtigerweise am besten einem unverdächtigen Mitglied dieses Berufsstandes selbst überläßt, bietet sich ein Zitat des ZEIT-Journalisten Martin Klingst an: »Sie (sc. die Befürworter des Großen Lauschangriffs) erhalten tatkräftige Unterstützung von jenen Medien, die inzwischen die organisierte Kriminalität zu ihrem Lieblingsthema erkoren haben und Tag für Tag mit ihren Geschichten über das schmutzige und brutale Geschäft von russischen Waffenschiebern, rumänischen Tankstellenräubern, vietnamesischen Zigaretten- und deutschen Menschenhändlern Ängste schüren« (DIE ZEIT Nr. 46 vom 10.11.1995). Bezeichnend ist auch die mediale Inflationierung des Wortes Mafia (Führerscheinmafia, Hormonmafia, Zigarettenmafia etc.).

Da ist es auch nur konsequent, wenn Initiativen, die darauf zielen, das Grundrecht auf Datenschutz ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen, als überflüssig bewertet werden. Folgerichtig sind alle entsprechenden Initiativen bei der Reform des Grundgesetzes in der Gemeinsamen Verfassungskommission gescheitert.

4. Tabugrenzen für staatliche Grundrechtseingriffe? Effizienz versus Intimsphäre

Wer den Großen Lauschangriff in das in den letzten Jahren entstandene Szenario parlamentarisch legitimierter Überwachungsmöglichkeiten einordnet, wird zunächst feststellen, daß er einen weiteren - wenn auch besonders gewichtigen - Tropfen darstellt im Prozeß der permanenten Aushöhlung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dennoch ist gerade der Große Lauschangriff besonderer Aufregung aller rechtsstaatlich Denkenden würdig. Er hat einen hohen Symbolwert für den Zustand der Republik. Seine Zulassung wäre eine Zäsur für den Rechtsstaat, eine bedeutsame Wendemarke der Verfassungsentwicklung der Nachkriegszeit. Denn der Lauschangriff repräsentiert wie keine andere in der letzten Zeit neu eingeführte Fahndungsform die Einstellung, daß bürokratische Effizienz das allein entscheidende Kriterium für die Rechte des Staates gegenüber dem Individuum im allgemeinen und bei der Strafverfolgung im besonderen sei.

Der Große Lauschangriff provoziert die Frage, ob es überhaupt noch absolute Tabugrenzen für staatliche Grundrechtseinschränkungen gibt. Burkhard Hirsch, der sich bei der Mitgliederbefragung der FDP vehement gegen diese neue Befugnis eingesetzt hat, hat die Einstellung und Taktik der Protagonisten von Law and Order plastisch beschrieben und so auf den Punkt gebracht: »Auch der Erzkonservative leugnet nicht, daß es rechtsstaatliche Grenzen geben muß. Er weigert sich nur standhaft, sie zu bezeichnen.« Bremens Justizsenator Henning Scherf hat dasselbe so formuliert: »Für Exponenten eines starken Staates gibt es keine Sättigungsgrenze.«

Sich auf das Effizienzargument beim Großen Lauschangriff einzulassen, ist aus zwei Gründen nur eingeschränkt sinnvoll. Zum ersten sind Effizienzprognosen für den Wanzeneinsatz genauso spekulativ wie Prognosen für den Börsenkurs der Telekom-Aktie. Bezeichnend ist schon, daß selbst alle Besucher beim »Kronzeugen« FBI, je nach Vorverständnis, mit sich widersprechenden Erkenntnissen aus den USA zurückkehren. Vor allem aber ist in Deutschland selbst bis heute keines der in den letzten Jahren eingeführten Fahndungsmittel solide evaluiert worden, bevor den Strafverfolgern die neue Befugnis bewilligt wurde, obwohl dies im übrigen ausdrücklich in der Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP vorgesehen ist. Anders ausgedrückt: Die Behauptung, daß Staatsanwälte und Kriminalpolizei mit ihren derzeitigen Möglichkeiten nicht auskommen, ist eine Behauptung ohne solide empirische Basis.

Eine aufgeschlüsselte TÜ-Statistik der Justizverwaltungen von Bund und Ländern beispielsweise ist erst im Aufbau und erfaßt gerade einmal die Zahlen ab 1.1.1996. Da es keine objektiven, nachprüfbaren und mit kriminologischer Expertise erstellten Auswertungskriterien gibt, fehlt es auch an der Möglichkeit einer Prognose über die Erforderlichkeit der Maßnahme, die aber wiederum nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes notwendige Voraussetzung ist bei gesetzgeberischen Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Was bekannt ist, spricht jedenfalls wenig für eine Erforderlichkeit: DER SPIEGEL (25/96) hat einige Abhöraktionen von Polizei und Verfassungsschutz nachrecherchiert und deren höchst bescheidene Ergebnisse unter den Ausspruch eines frustrierten bayerischen Beamten gestellt: »Jo mei, oft komm nix `raus.«

Der Hauptgrund aber, aus dem der Meinungsstreit über Tauglichkeit oder Untauglichkeit des Großen Lauschangriffs in seiner Bedeutung zu relativieren ist, ist grundsätzlicher Natur: Das heimliche Hineinlauschen in private Räume, der Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung, liegt jenseits der Grenze, die den Staat des Grundgesetzes umschreibt.

Die deutschen Datenschutzbeauftragten haben diese Position in ihrer Konferenzentschließung vom Oktober 1992 - unter Berufung auf eine nunmehr 27 Jahre alte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes - so formuliert: »Das Grundgesetz gewährt jedem einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist. Dem einzelnen muß um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein »Innenraum« verbleiben, in dem er »sich selbst besitzt« und ,in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt« (BVerfGE 27, 1ff). Jedem muß ein privates Refugium, ein persönlicher Bereich bleiben, der obrigkeitlicher Ausforschung - insbesondere heimlicher - entzogen ist. Dies gilt gegenüber Maßnahmen der Strafverfolgung vor allem deshalb, weil davon auch unverdächtige oder unschuldige Bürger betroffen sind. Auch strafprozessuale Maßnahmen dürfen nicht den Wesensgehalt eines Grundrechts, insbesondere das Menschenbild des Grundgesetzes, verletzen.«

5. Kompensation durch grundrechtssichernde Maßnahmen?

Von den Befürwortern des Großen Lauschangriffs werden als rechtsstaatliche »Trostpflaster« grundrechtssichernde Maßnahmen angeboten, die den Eingriff in die Intimsphäre abfedern sollen. Sie finden sich in ähnlicher Form sowohl im Mitgliederbeschluß der FDP als auch in den Vorschlägen und Gesetzesanträgen der SPD. Es handelt sich allerdings um »poröse Krücken«, die das Straucheln des Rechtsstaates nicht verhindern können.

Die Ultima-ratio-Klausel, wonach nur dann in Wohnräume hineingelauscht werden kann, wenn die Erforschung der Straftat sonst aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre, klingt gut, wird aber schon jetzt in der StPO inflationär verwendet; sie gilt in leicht unterschiedlicher Form bereits für die Überwachung des Fernmeldeverkehrs (100a Satz 1 a E.), für den Lausch- und Spähangriff außerhalb von Wohnungen (100c) und für die Rasterfahndung (98).

Wollte der Richter diese Voraussetzung kontrollieren, müßte die antragstellende Staatsanwaltschaft zunächst überlegen, welches der zahlreichen »letzten« Mittel nun das wirklich allerletzte darstellt und im einzelnen die bisherigen Mißerfolge mit den herkömmlichen Aufklärungsbefugnissen darstellen.

Wer den Alltag von Strafverfolgern und Ermittlungs- oder auch Haftrichtern kennt, hat gute Gründe zu der Befürchtung, daß der Richtervorbehalt, die Erfordernis, eine gerichtliche Entscheidung einzuholen, gleichsam das »Flaggschiff« des Grundrechtsschutzes durch Verfahren, in der großen Mehrzahl der Fälle nur einen lästigen, aber kurzen bürokratischen Umweg darstellt, für die wenigsten Abhöranträge aber eine rechtsstaatliche Sperre. Dies läßt sich - wegen der vergleichbaren Entscheidungssituation - an der stark gestiegenen Zahl der genehmigten Telefonüberwachungen ablesen. Zwischen 1987 und 1990, also in der alten Bundesrepublik, stieg die Zahl der TÜ-Anordnungen von 1.805 auf 2.494, im Jahr 1995 lag die Zahl bei 3.596. Auch die Befristung der Wohnraumüberwachung taugt nur soviel wie der Richtervorbehalt selbst: Wird leichter Hand bewilligt, wird auch leichter Hand verlängert.

Durch die Zweckbindung der erlauschten Informationen sollen Zufallsfunde, die die Wanze in der Wohnung liefert, also Gesprächsinhalte, die mit dem verfolgten Schwerverbrechen nichts zu tun haben, nur für andere Katalogtaten, also andere schwere Straftaten, verwendet werden dürfen. Diese Zusicherung streut dem Bürger Sand in die Augen. Nach der Rechtsprechung scheiden Bänder aus der Telefonkontrolle mit Zufallsfunden für Nichtkatalogtaten zwar als Beweismittel aus; als »Ermittlungsansatz« stehen solche Erkenntnisse den Strafverfolgungsbehörden aber gleichwohl zur Verfügung.

Last but not least sollen auch die Datenschutzbeauftragten ihr Scherflein zur Legitimierung des Großen Lauschangriffes beitragen. Aber deren Überwachungsmaßnahmen beziehen sich nie auf das Ob, auf die Zulässigkeit der Lauschaktion. Deren Rechtmäßigkeit prüft das Gericht. Interventionen des Datenschutzbeauftragten greifen immer nur nachträglich und für das aus der Maßnahme bereits gewonnene Informationsmaterial. Beanstanden kann er also allenfalls z.B. Art und Dauer der Aufbewahrung der Bänder bzw. schriftlichen Protokolle. Auch beim Verbrechensbekämpfungsgesetz hat man die Funktion des Bundesbeauftragten für Datenschutz bei der Kontrolle der Abhörtätigkeit des BND auf eine fakultative Gutachterrolle gegenüber der G 10-Kommission beschränkt (4 Abs. 9 BND-G).

6. Fazit: Belastungsgrenze des Grundgesetzes erreicht

Dem Rechtsstaat ist ein gesetzliches Informationsdefizit der Strafverfolgung inhärent. Das Grundgesetz hat mit dem bereits jetzt zur Verfügung stehenden Eingriffsinstrumentarium die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht. Die Privatwohnung muß tabu bleiben. Am Anfang stand ein Zitat des Bundeskanzlers, zum Abschluß soll ein Kernsatz aus dem Vorlkszählungsurteil des Bundesverfasungsgerichtes zitiert sein: »Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wo was wann und bei welcher Gelegenheit WER über sie weiß.«

Dr. Stefan Walz ist Landesbeauftragter für den Datenschutz Bremen
(Redebeitrag zum ,Bürgerforum Großer Lauschangriff« der Humanistischen Union u.a. am Montag, den 21.10.1996, in Bonn; überarbeitet für GEHEIM)


Startseite | Inhaltsverzeichnis | Archiv | InfoLinks

© HMTL-Generator © 1997 U. Pieper