Logo Geheim 4/1996

Editorial
BVerfGE vom 26.10.1996 - das Bundesverfassungsschutzgericht

Motti:
»We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is.« Ch. E. Hughes, Richter am Supreme Court der USA

»Die Gefahr der Konstitutionalisierung der Tagespolitik ...« Unterzeile zu W. Schäubles »Weniger Demokratie wagen?« in FAZ, 13.9.96

»Not macht die Politik erfinderisch; die Verfassung wird strapaziert, an das Verfassungsgericht wird durchaus gedacht. Es pflegt sich aber - was nicht zu tadeln ist - unabweisbaren politischen Zwängen zu fügen.« FAZ Leitartikel »In großer Not« vom 17.12.1996.

Jutta Limbach, Karin Graßhof, Konrad Kruis, Paul Kirchhof, Klaus Winter, Bertold Sommer, Winfried Hassemer und Hans Joachim Jentsch haben in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 12. November 1996 den öffentlichen Protest dreier Bundesbürger gegen als Unrecht empfundene strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung als Unsinn beschrieben.

Nun könnte man fragen: Acht Leute mehr, was soll die Aufregung? Die haben sich doch ganz offenbar nur der Meinung angeschlossen, die Rupert Scholz von der CDU und Klaus Kinkel von der FDP schon lange verbreiten lassen.

Nun - besondere Bedeutung bekommt diese Meinung dadurch, daß die acht Leute in in einem kurfüstlichen Wahlverfahren bestimmt (von einem Dutzend Parlamentariern und einem guten Dutzend Bundesratlern) und vom Grundgesetz mit geradezu königlicher Würde ausgestattet (nur »der Kaiser« sitzt in Straßburg) worden sind - verfassungsrechtlich zur Institution erhoben als sogenannter Zweiter Senat des sogenannten Bundesverfassungsgerichtes -, deren Meinung als Entscheidung sofortige Wirkung entfaltet, z.B. den Ausritt der Polizei zum Vollzug von Freiheitsstrafen. Da die Acht damit das Recht auf Minderheitenschutz verlieren, sich vielmehr aus dem Umstand der Ausstattung ihrer Meinung mit staatlicher und verfassungsrechtlicher Autorität und darüber hinaus des Gebrauchs der dem Volke unbekannten Namen für die Dinge, erhebliche Bedenken ergeben gegen die Erkennbarkeit der inneren Widersprüchlichkeit der Argumentation wie des ihr zugrundeliegenden harten Überzeugungskerns sowohl für die Öffentlichkeit wie für die Vollzugsbeamten, sei zur Aufklärung ein wenig räsonniert.

Um was geht es? Es geht um die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden ehemaliger Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und eines Soldaten der DDR-Grenztruppen gegen strafrechtliche Verurteilungen wegen der Tötung von Menschen beim Versuch illegaler Überschreitung der Grenze zwischen DDR und BRD.

Der Vereinigungsvertrag legt unstrittig fest, daß für die Beurteilung von Straftaten, die in der DDR begangen wurden, das Strafrecht der DDR anzuwenden ist.

Die gesetzlichen Bestimmungen der DDR über den Schußwaffengebrauch an der Grenze zur BRD entsprechen unstrittig den bundesrepublikanischen Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut. (Daß Exzeßtaten - wie sie z.B. für Bad Kleinen vermutet werden müssen -, dadurch weder in der BRD noch in der DDR straffrei gestellt wurden und werden, liegt auf der Hand.)

Das Strafrecht ist an Gesetze gebunden. Die Lateiner sagen: Nullum crimen, nulla poena sine lege; zu Deutsch: Es gibt kein Verbrechen und keine Strafe ohne Gesetz. Der Gesetzgeber hat diesem Grundsatz der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht mit Artikel 103, Absatz 2 des Grundgesetzes Verfassungsrang verliehen: »Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«

Es gab kein Gesetz in der Rechtsordnung der DDR, das die Grenzbefestigungen und die Handlungen nach den Vorschriften des unmittelbaren Zwangs inkriminierte oder mit Strafe bedrohte - allenfalls also Artikel 103 GG, Rückwirkungsverbot: »Das Rückwirkungsverbot gilt absolut«, sagen die Acht in Karlsruhe, »und erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung.« Hier ist die juristische Argumentation zuende. Denn die Erfüllung der Forderung nach »Delegitimierung der DDR« (Kinkel) und der Erwartung einer rechtskräftigen Verurteilung des ehemaligen DDR-Staatschefs Egon Krenz »wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze« (Scholz) verlangt die Begründung des Gegenteils, also - daß absolute Geltung und strikte Formalisierung »zurücktreten« müssen.

Diese Relativierung der absoluten Geltung und die Auflösung der strikten Formalisierung bewerkstelligen die Acht mit der Gedankenwelt der Totalitarismuspropaganda, die - ganz gleich, ob durch Rückgriff auf Menschenrechte, Radbruch oder Urteil zum Grundlagenvertrag - der kommunistischen Arbeiterbewegung und ihren staatlichen Organisationsformen als »Realer Sozialismus« durch demagogische Gleichsetzung mit den Verbrechen des Faschismus die Existenzberechtigung bestritten hat und bestreitet. Damit bewegt sich das BVerfG unverkennbar dort, woher es kommt und wohinein es gehört - im Bereich des »Verfassungsschutzes« und der »Streitbaren Demokratie«. Das ist keine Diffamierung, sondern herrschende Meinung, was belegt sei mit einem Zitat des Haus- und Hof-Politologen der Streitbaren Demokratie, Eckhard Jesse: »Polizei und Nachrichtendienste sind auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit, des Staats- und Verfassungsschutzes vorrangig tätig. Aber es gibt noch weitere Institutionen, die - direkt oder indirekt - hier wirken. Zu verweisen ist dabei vor allem auf den Generalbundesanwalt und das Bundesverfassungsgericht.« Nicht also der Grundrechtskatalog, sondern die Artikel des GG zum Schutz der FDGO bis hin zu dem Selbstreinigungs-Artikel 98 Abs. 2, der die Entlassung der sonst unabhängigen Richter wegen Verstoß gegen die FDGO ermöglicht, sind die tragenden Säulen des Gedankengebäudes mit Namen BVerfG.

Das neueste Urteil negiert also nicht etwa die Souveränität der DDR, am wenigsten zum ersten Male, sondern die Existenzberechtigung des Sozialismus überhaupt. Es kriminalisiert nicht die Bürger oder Repräsentanten der DDR, sondern jeden Sozialisten und tendenziell jeden, der sich weigert, die DDR als Unrechtsstaat zu sehen. Es steht ganz in der Tradition der BVerfGE im KPD-Verbotsurteil, dem Urteil zum Extremistenbeschluß und zum Grundlagenvertrag.

Es schafft nicht zweierlei Recht, sondern exekutiert sein einziges, negiert konsequent die Existenz von Recht außerhalb oder über seinem Staatsschutzinteresse. Der Kalte Krieg erweist sich noch im Nachhinein als Kampf zweier Gesellschaftsentwürfe auf zwischenstaatlicher Ebene. Die Beendigung des Kalten Krieges einzufordern hieße, die Stillegung der Auseinandersetzung um eine soziale Alternative in Deutschland zu wollen.

Insofern (insofern!) sind diejenigen allemal im Recht, die in den Gerichtssälen mit erhobener Faust die Internationale singen, wenn damit auch zur Traditionspflege gerät, was einer Neubegründung bedarf. Deutschland - als einst einzige parlamentarische Demokratie mit Verbot der Kommunistischen Partei - erweist sich konsequent als der entschiedenste und glaubwürdigste antikommunistische Staat in der Geschichte der europäischen Staaten. Entscheidend für die Auseinandersetzung um mehr Demokratie und soziale Sicherheit ist also - wie erhellt - nicht alleine die Auseinandersetzung um Recht und Gesetz, sondern ebensosehr und logisch vorrangig die Auseinandersetzung um das Geschichtsbild. Dieses Geschichtsbild, das heute gleichermaßen geprägt ist von der Propagandafigur des Totalitarismus wie dem treuherzigen Habermas'sche Identifikationsangebot des »Antitotalitären Konsens'« (dem sogar Liberale wie Heribert Prantl und Robert Leicht erliegen, der Göttin der Vernunft sei's geklagt), delegitimiert jede gesellschaftliche Alternative zum Gegenwärtigen, in der - nach Bloch - das Recht auf Glück und Würde gleichermaßen verwirklicht ist.


Startseite | Inhaltsverzeichnis | Archiv | InfoLinks

© HMTL-Generator © 1997 U. Pieper