Logo Geheim 4/1996

Glück und Würde
Texte zur Strategiediskussion (17)

Was rechtens sei? - darum kommt man nicht herum. Diese Frage läßt immer aufhorchen, sie drängt und richtet. Ein als naturrechtlich bezeichnetes Denken hat sich ihr gewidmet, grundsätzlich, nicht von Fall zu Fall. Und gleich wie man dazu stand, ablehnend oder unentschlossen: das in ihm Gemeinte, so abstrakt es vielfach war, konnte nicht gleichgültig gemacht werden. Wo alles veräußerlicht wurde, stechen unveräußerliche Rechte sonderlich heraus. Und weil sie keinen bestehenden Platz für sich hatten, stärkte das den jasagenden Untertan wenig. »Kein Mensch muß müssen«, dieser naturrechthafte Satz, im Gewohnten so falsch, wirkte als ungewohnter, als Anlage und Anmeldung, desto richtiger.

Gegen diese revolutionäre Anlage trat im neunzehnten Jahrhundert erst die historische Rechtsschule auf, wirkte restaurierend dann der Rechtspositivismus, moderner, anpassungsfreudig, also empiristisch. Aber beide Ablehnungen waren zu heftig, um so abgeklärt zu erscheinen, wie sie das ausgaben. Das aufsteigende Bürgertum hatte in seinem Naturrecht oft nur sich selbst idealisiert, aber dann, als arriviertes, hat es sich mit Anti-Naturrecht lediglich smart gemacht, klar zum Profit, oft zynisch. Das Denken eines rechtlichen Maßstabs überhaupt schien erledigt, die alten Versuche dazu galten als lächerlich, mindestens als verdächtig, und das eben, scheinobjektiv, in Bauch und Bogen. Indes: Selbst die leicht durchschaubaren Fiktionen im älteren Naturrecht (so der als vorgeschichtlich gesetzte Staatsvertrag) machten das Ganze der Sache nur jenen verdächtig, denen das vorhandene positive Recht viel zu unverdächtig war. Ohnehin hielt die Ablehnung auf die Dauer nicht vor; denn sobald die gesellschaftlichen Widersprüche wuchsen, wurde für das Unrecht selber eine sozusagen naturrechtliche Draperie nötig. Neukantianisch wurde zunächst so etwas wie richtiges Recht dem strikten angestückt, war aber als Flicken nicht lange brauchbar. Desto vitaler inszenierte der Faschismus: er erfand für die Wirtschaftsführer ihr Urrecht des Stärkeren, für die Opfer das anders blutvolle des geborenen Knechts. Mit mehr Salbe wieder ging eine Art klerikales Naturrecht an, tunlichst nicht explosiv in der Gebärde und lauter soziale Harmonielehre. Kapital und Arbeit finden sich zusammen in einer angeblichen lex aeterna gestaffelten Eigentums, ständischer Ordnung gottgewollt, naturgemäß. Soviel hier über solche Nachgeburten von heutzutage, nachdem Rechtspositivismus nicht mehr ausreicht, und sie sind, bei allem, was rechtens ist, nicht Citoyen. Aber auch noch soviel liberale Erinnerung andererseits, Freiheit, gern auch Brüderlichkeit, unlieber Gleichheit betreffend, kann am Bourgeois nichts oder wenig mehr sein als Sonntag, gute Stube, Apologie. Überraschender, ganz und gar nicht regulär ist, daß sozialistisch, wo expressis verbis der wirkliche, nämlich der zu befreiende und zu erfüllende Mensch im Mittelpunkt steht, noch weithin Ablehnung von Naturrecht im Schwange ist. Der oft abstrakte, nur genushafte, statisch-ewige Charakter in den alten Naturrechtslehren wurde dazu sehr betont, begründet negativ; es gibt freilich noch andere Gründe: Und doch geht genau jetzt, an diesem Punkt, eines der entscheidensten Themen des Humanismus in Aktion. Zu ihm gehört die Frage nach den echten Intentionen des alten Naturrechts, gehört die Aufgabe eines sozialistischen Erbes an diesen ehemals liberalen, nicht nur liberalen Menschenrechten. Die Etablierung des aufrechten Gangs, auch gegen gepolsterte, auch gegen umgetaufte, ja retrograde Abhängigkeiten, - es ist ein Postulat aus dem Naturrecht und nirgend woanders her, woanders auch nur findbar. Die Erbitterung war nicht nur moralisch, wenn es Kant als keine Kleinigkeit ansah, daß der Mensch von seinen Herrschern als eine solche behandelt wird, »indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um ihn schlachten zu lassen«. Und folgende Weisung bei Marx ist nicht nur ökonomisch, wenn er lehrt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Verständlich daher, daß dergleichen ebenso als bloß »soziologisches« Wesen ausgeschaltet oder abgemattet wurde, wie es immer wieder aufhorchen läßt. Altes Eisen also sieht anders aus, das Überalterte steckt mehr in dem, was das Naturrecht angriff, als in ihm selber. Der einfache kritische Spruch: »Tausend Jahre Unrecht machen noch keine Stunde Recht«, die konstruktive Definition: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, beide haben ihren Lohn noch nicht dahin. Dergestalt also, daß weder menschliche Würde ohne ökonomische Befreiung möglich ist noch diese, jenseits von Unternehmern und Unternommenen jeder Art, ohne die Sache Menschenrechte. Beides geschieht nicht automatisch im selben Akt, sondern ist wechselseitig aufeinander angewiesen, bei ökonomischem Prius, humanistischem Primat. Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte. Ein Stück Beethoven ist bei ihnen, die Widmung der Eroica zerreißend, als Napoleon Kaiser wurde. Der Grundzug vor allem des klassischen Naturrechts ist mannhaft, ein Pochen auf die facultas agendi endlich unentfremdeter Menschen in der norma agendi einer endlich unentfremdeten Gemeinschaft. ...

Das Problem eines Erbes am klassischen Naturrecht ist suo modo ebenso dringend, wie es dasjenige an den sozialen Utopien war. Soziale Utopien und Naturrecht hatten ein sich ergänzendes Anliegen im gleichen humanen Raum: getrennt marschierend, leider nicht vereint schlagend. Obgleich beide in dem Entscheidenden einig waren, das menschliche Gesellschaft heißt, so bestanden doch zwischen Sozialutopien und Naturrechtslehren lange wichtige Unterschiede ...: Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören, das Naturrecht konstruierte Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören. ...

Schillers Abhandlung »Über das Erhabene« ist ein Perspektivplan, der sich hören lassen kann, auch in alter Sprache: »Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg.« Derart ist es sehr an der Zeit, auch die Unterschiede in den ehedem sozialutopischen Absichten des Glücks und den ehedem naturrechtlichen der Würde endlich funktionell verbunden und aufgehoben zu sehen. Eben voll Gewißheit: es gibt sowenig menschliche Würde ohne Ende der Not, wie menschengemäßes Glück ohne Ende alter oder neuer Untertänigkeit.

(Ernst Bloch (1961): Naturrecht und menschliche Würde.
Vorwort, Frankfurt am Main 1972, S. 11ff, 14)


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